Der Engelmacher
bis er wieder trocken war.
Victor schwieg drei Jahre lang. In seinem ersten Lebensjahr nahm man noch an, er könne wegen seiner Missbildung keine Laute hervorbringen, aber nachdem seine Hasenscharte operiert worden war und er noch immer keinen Mucks von sich gab, nahmen die Schwestern an, er wäre zu dumm zum Sprechenlernen. Dass er auch auf einige Tests in keiner Weise reagierte, bestätigte diese Vermutung und bewies eindeutig seine Schwachsinnigkeit.
Sein Vater hatte anfangs noch auf eine gute Wende gehofft. Als diese ausblieb, war er jedoch in gewisser Weise beruhigt, weil jetzt feststand, dass sein Sohn zu Recht in die Anstalt gekommen war. Dass möglicherweise die Hasenscharte den Ausschlag dazu gegeben hatte, hatte ihm manch schlaflose Nacht bereitet. Während des ersten Jahres war er einmal wöchentlich zu Besuch gekommen, und immer wenn er den Haufen von Debilen, Imbezilen und Idioten gesehen hatte, war ihm wieder durch den Kopf gegangen, dass sein Sohn hier nichts zu suchen hatte.
Aber zum Glück hatte sich nun herausgestellt, dass der Junge tatsächlich schwachsinnig war.
Seine Mutter besuchte ihn kein einziges Mal. Sie erkundigte sich auch bei ihrem Mann nicht nach dem Kind. Und dieser schwieg, bis auf das eine Mal.
»Sie haben ihn für debil erklärt«, sagte er. »Die Tests haben es offiziell erwiesen.«
Johanna zwinkerte mit den Augen. Sonst reagierte sie in keiner Weise.
»Er darf nun dort bleiben«, fuhr er fort, »solange wir das wollen.«
Seine Frau sah ihn abwartend an.
»Ich habe gesagt, dass wir sehr froh wären, wenn er weiter unter der Obhut der Schwestern bleiben könnte. Für den Jungen ist es das Beste. Schwester Milgitha war ebenfalls dieser Ansicht.«
Seine Frau nickte. Dabei blieb es. Bis er sich umdrehte und aus dem Raum gehen wollte.
»Womit haben wir das nur verdient, Karl?«, sagte sie mit einer Spur von Verzweiflung in der Stimme.
Diesmal schwieg er. Er hatte keine Antwort darauf. Außer dass sie mit Kindern vielleicht gar nicht hätten anfangen sollen. Aber darüber hatten sie nie gesprochen. Und jetzt war es zu spät.
***
Am 25. Juli 1978 kam in England Louise Brown zur Welt. Sie war die Frucht der hervorragenden Zusammenarbeit des Zoologen Robert Edwards aus Manchester mit dem Gynäkologen Patrick Steptoe aus Oldham. Edwards hatte in den 60er Jahren angefangen, mit In-Vitro-Fertilisation zu experimentieren, Steptoe hatte in den 70ern eine Methode gefunden, Eizellen über den vaginalen Weg aus dem Bauch herauszuholen und wieder in die Gebärmutter einzubringen. Im Herbst 1977 hatten sie Louise Brown gezeugt, indem sie eine Eizelle der Mutter und eine Samenzelle des Vaters in einer Petrischale künstlich zusammenfließen ließen und den entstandenen Embryo in den Mutterbauch zurückverpflanzten. Die Neuigkeit, die sie im Sommer 1978 bekannt machten, löste allerorten Erstaunen aus, und die Reaktionen waren gemischt, reichten von Abscheu bis Bewunderung. Für Victor Hoppe, der selbst jahrelang mit demselben Ziel vor Augen experimentiert hatte, bedeutete die Geburt des ersten Babys aus dem Reagenzglas das traurige Ende seiner eigenen Bemühungen.
Bereits während der Forschungen für seine Promotion an der Universität Aachen hatte er mit Versuchen an Eizellen von Amphibien und Mäusen begonnen, und als er 1970 die Zusammenarbeit mit einer Bonner Fruchtbarkeitsklinik aufnahm, hatte er erste Versuche unternommen, menschliche Eizellen außerhalb des Körpers zu befruchten. Die Eizellen bekam er über ein Bonner Krankenhaus; sie stammten aus Eierstöcken, die bei einem gynäkologischen Eingriff entfernt worden waren. Das Sperma, das er verwendete, war sein eigenes. Nach fünf Jahren experimentieren hatte er das richtige Verfahren und die richtigen flüssigen Substanzen gefunden, um die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle in der Schale zu Stande zu bringen. Die befruchtete Eizelle ließ er dann in einer anderen Flüssigkeitslösung zu einem Embryo auswachsen, so wie er es zuvor bereits mit den Eizellen von Mäusen getan hatte. Ein Jahr dauerte es, bis er auch diesen Prozess beherrschte, eine überschaubare, ja in diesem Fall kurz zu nennende Zeitspanne.
Im Frühjahr 1977 überzeugte er anhand seiner Resultate einige Paare davon, an weiteren Experimenten mitzuarbeiten. Bei all diesen Paaren waren die Frauen aufgrund einer Anomalität der Eierstöcke nicht in der Lage, reife Eizellen zu produzieren. Doktor Hoppe schlug ihnen vor, eine fremde Eizelle mit dem Samen
Weitere Kostenlose Bücher