Der Engelmacher
war ihm wieder in den Sinn gekommen. Genauso wenig wie ihm war es der Äbtissin je gelungen, Victors Vertrauen zu gewinnen. Das war ihm klar geworden, als er Schwester Marthe angesehen hatte. Ihr zugehört hatte. Darum hatte Victor nie einen Ton von sich gegeben. Und weil er immer geschwiegen hatte, war er für debil erklärt worden. Einzig und allein darum.
Er hatte seinen Stuhl zurückgeschoben und war kopfschüttelnd aufgestanden. Um seine immer mehr aufkochende Wut abzureagieren, hatte er der Äbtissin noch Vorwürfe machen wollen, aber kein Wort herausbekommen, denn vor allem war er wütend auf sich selber. Wie hatte er in Gottes Namen je den Fehler machen können, seinem Sohn dies anzutun?
Die graue Frau und ihre Helferin kamen aus Aachen. Sie sollten keine Fragen stellen und lediglich ihre Arbeit tun. Das hatte Schwester Milgitha mit ihnen abgesprochen. Für das Schweigen wurden sie noch besser bezahlt als für die Arbeit.
Lotte Guelen wusste von nichts und saß in Unterwäsche in ihrer Kammer. Kurz zuvor hatte sie ihre Kutte abgeben müssen. Es war, als hätte sie ein schweres Joch zerbrochen. Endlich ist es vorbei, hatte sie gedacht. Schwester Marthe war gestorben und Lotte Guelen auferstanden. Schwester Milgitha war ohne ein Wort gegangen. Lotte dachte, sie ginge ihre normale Kleidung holen, und fragte sich, ob sie wohl noch hineinpassen würde.
Als die Äbtissin zurückkam, war sie nicht allein. Es waren zwei Frauen bei ihr, von denen eine ganz und gar grau war.
Ihre Schürze. Ihre Augen. Ihr Haar. Und ihr Antlitz. Als hätte sie vorher ihre Haut mit Asche eingerieben.
Lotte sah die graue Frau und wusste Bescheid. Sie stieß einen Schrei aus, aber Schwester Milgitha erstickte diesen sofort, indem sie ihr eine Hand auf den Mund hielt. Mit der anderen Hand drückte sie ihren Oberkörper herunter, bis sie flach auf dem Bett lag. Dann banden die beiden Frauen sie mit einem Lederriemen fest. Sie versuchte sich noch zu wehren, aber sie war der Übermacht nicht gewachsen. Auch ihre Handgelenke wurden festgebunden, und nachdem die graue Frau ihre Beine auseinandergezogen und die andere Frau beide Knöchel an den Seiten des Bettes festgezurrt hatte, bekam sie einige runde Kissen unter den Po geschoben, sodass ihr Becken sich nach vorne neigte. Mit einer Schere wurde ihre Unterhose durchgeschnitten. Dann schloss sie die Augen. So sah sie die lange Nadel nicht, die die graue Frau aus der Tasche holte.
»Machen Sie es möglichst kurz«, hatte Schwester Milgitha der grauen Frau vorher gesagt.
Als die Nadel eingeführt wurde, biss Lotte vor Schmerz fest in das Handtuch, das die Äbtissin ihr auf den Mund drückte. Deren Fingernägel drangen tief in ihre rechte Wange ein.
Mit der einen Hand hielt die graue Frau die Schamlippen der Novizin auseinander, mit der anderen bewegte sie die Nadel vor und zurück. Sie hatte Glück. Nach wenigen Malen Hin und Her hatte die Spitze der Nadel ihr Ziel gefunden. Sie nickte der Helferin zu, die das Handtuch zum Einwickeln schon bereithielt.
Einen kurzen Augenblick nur sah Schwester Milgitha den Fötus, der viel größer war, als sie erwartet hatte. Aber noch mehr erschrak sie darüber, dass er so sehr nach einem Menschen aussah. Als sie bemerkte, dass die graue Frau sie musterte, wandte sie schnell den Blick ab.
»Nehmen Sie es mit und begraben Sie es irgendwo«, sagte sie.
Am Ende des Tages war Lotte noch kurz bei Victor gewesen. Sie trug wieder ihre Kutte und hatte ihm ein paar Sätze ins Ohr geflüstert. Danach hatte sie kurz ihre Lippen auf seine Stirn gedrückt und noch mehr gesagt. Dann war sie gegangen, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Es ist weg, Victor. Das Kind ist weg. Es tut mir Leid.«
Das hatte sie gesagt. Und danach, nach dem Kuss: »Gott gibt und Gott nimmt, Victor. Aber nicht immer. Manchmal müssen wir es selbst tun. Merk dir das.«
Dies waren die letzten Worte, die er aus ihrem Munde vernahm. Am nächsten Morgen holte sein Vater ihn aus der Anstalt ab.
Das war am 23. Januar 1950.
***
Entweder schenkte er zwei Leben. Oder er nahm zwei Leben.
Mit diesem Dilemma rang Victor Hoppe im April 1979, während zur gleichen Zeit unzählige Gratulationen anderer Wissenschaftler, die seinen Artikel in Science gelesen hatten, per Post und Telegramm bei ihm eingingen.
Entweder er ließ die Föten heranwachsen, oder er brach die Schwangerschaft vorzeitig ab. Letzteres hatte er noch nie getan. Er hatte noch nie ein Leben genommen. Deshalb war er
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