Der Engelmacher
auch so ratlos. Schon von dem Augenblick an, als er an der Universität mit den Forschungen für seine Promotion begonnen hatte, hatte er sich vorgenommen, Leben zu schenken. Das war die Herausforderung gewesen: über Leben entscheiden zu können. Nicht über den Tod.
Einer der Umschläge erregte seine Aufmerksamkeit, weil er das Emblem der Universität Aachen trug. Die Karte darin stammte von einem Professor, den er nicht kannte, einem gewissen Rex Cremer, Ärztlicher Direktor an der Fakultät für Biomedizin. Er blieb mit dem Blick an dem Satz hängen, durch den sich die Botschaft von den anderen Glückwünschen unterschied: Durch Sie hat Gott jetzt das Nachsehen.
Rex Cremer hatte es scherzhaft gemeint. Er hatte mit der Anspielung auf Gott lediglich aus den übrigen Gratulanten herausstechen wollen und war davon ausgegangen, dass Doktor Hoppe die feine Ironie schon begreifen würde. Keine Sekunde hatte er daran gedacht, dass der Kollege es anders auffassen könnte.
Bis zu jenem Telefongespräch, das er am 15. April 1979 mit ihm führte.
»Doktor Hoppe, Sie sprechen mit Rex Cremer von der Universität Aachen.« Bewusst ließ er eine Pause entstehen, damit der Doktor sich vergegenwärtigen konnte, mit wem er sprach. Der reagierte jedoch auf Anhieb.
»Doktor Cremer, danke für Ihre Karte.«
Er war angenehm überrascht. »Nichts zu danken. Es war ja eine verdiente Gratulation.«
»Es stimmt nicht«, sagte der andere in halb vorwurfsvollem Ton.
»Was stimmt nicht?«
»Was Sie schreiben. Dass Gott durch mich das Nachsehen hätte.«
»Ach, das meinen Sie. Das war doch nur …«
»Gott hätte das nie getan.«
Er konnte nicht folgen. Er kam sich vor, als wäre er falsch verbunden, und die Person am anderen Ende hätte es noch nicht gemerkt.
»Ich verstehe nicht, was Sie sagen wollen.«
»Dass Ihr Vergleich in diesem Fall nicht aufgeht. Sie haben die falsche Schlussfolgerung gezogen.«
Der Doktor sprach in einem schulmeisterlichen Tonfall, wodurch der Ärztliche Direktor sich in die Rolle eines Schülers gedrängt fühlte. Eines schlechten Schülers zumal. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben, dass er sich im Gespräch mit Victor Hoppe so fühlte.
»Gott hätte mit so etwas gar nicht erst angefangen«, fuhr Doktor Hoppe im selben Tonfall fort. »Er hätte nie zwei gleichgeschlechtliche Elternteile einen gemeinsamen Nachkommen zur Welt bringen lassen. Also kann er jetzt nicht durch mich das Nachsehen haben.«
Es hatte nicht die geringste Ironie in seiner Stimme gelegen, und auch das ärgerte Cremer.
»So hatte ich es noch gar nicht betrachtet«, sagte er, ohne seine Verärgerung durchklingen zu lassen. »Aber weshalb ich anrufe …«
»Wir dürfen Ihn andererseits auch keineswegs überschätzen«, unterbrach Doktor Hoppe ihn schroff. Er sagte es so nachdrücklich, dass es wie eine Warnung klang.
»Nein, natürlich nicht«, reagierte Cremer diplomatisch, während er sich langsam fragte, ob der Doktor vielleicht getrunken hatte.
»Denn wenn wir Ihn überschätzen, dann unterschätzen wir uns selbst«, fuhr Doktor Hoppe unbeirrt fort. »Den Fehler machen viele. Sie beschränken sich selbst in ihren Möglichkeiten. Sie bestimmen im Vorhinein, was möglich ist und was unmöglich. Und mit dem Unmöglichen finden sie sich ab. Aber manchmal ist das, was unmöglich erscheint, lediglich schwierig. Und dann ist es nur eine Frage der Ausdauer.«
»Und die haben Sie zum Glück bewiesen.« Endlich hatte der Ärztliche Direktor einen Aufhänger gefunden, von dem aus er zu dem Punkt kommen konnte, den er schon von Anfang an hatte ansprechen wollen. »Unter anderem deshalb würde ich Sie gern zu einem Gespräch einladen. Die Universität würde Ihnen gerne einen Lehrstuhl anbieten. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie bereit wären, Ihre Forschungen an unserer embryologischen Abteilung fortzusetzen, wo Sie seinerzeit auch promoviert haben.«
Am anderen Ende der Leitung blieb es still.
»Ihre alten Professoren sind noch immer des Lobes voll für Sie und würden Sie gerne wieder hier begrüßen. Inzwischen haben wir auch einige hervorragende junge Biologen hierhergeholt, mit denen Sie zweifellos gut zusammenarbeiten könnten.«
»Ich arbeite lieber allein«, lautete die knappe Antwort.
Cremer dachte kurz nach.
»Darüber lässt sich reden. Das Wichtigste wäre, dass Sie für unsere Hochschule arbeiten. Wollen wir uns nicht einmal zu einem persönlichen Treffen verabreden?«
»Das passt im Moment schlecht.
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