Der Engelspapst
etwas finden, womit wir den Kasten aufkriegen.»
Alexander nahm einen dünnen Schraubendreher aus der Ledertasche und versuchte, damit das Kassettenschloss zu knacken. Vergebens.
«Was sieht Plan zwei vor?», fragte Elena, als er mit einem entnervten Seufzer das Werkzeug fallen ließ und missmutig auf das zerkratzte Schloss starrte.
Mit einem gequälten Lächeln antwortete er: «Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt.»
Entschlossen nahm er einen großen Schraubenschlüssel und einen zweiten, stärkeren Schraubendreher aus der Werkzeugtasche. Den Schraubenschlüssel gebrauchte er als Hammer, den Schraubendreher als Meißel. Bei jedem Schlag erzitterte der Kasten und gab ein metallisches Klirren von sich, das sich wie ein Schmerzensschrei anhörte. Der Inhalt klapperte dumpf und geheimnisvoll. Auch diese Methode schien ungeeignet, und Alexander schlug immer heftiger zu – bis schließlich ein hartes Knacken ertönte und der Deckel aufsprang.
Er legte die Werkzeuge weg und starrte die Kassette an wie eine Giftspinne. Nach all der Mühe, die er sich gemacht hatte, das Ding vor der Polizei zu verbergen und heimlich zu öffnen, beschlichen ihn jetzt Skepsis und Furcht. Wegen dieses Kastens waren vermutlich mehrere Menschen ermordet worden. Und da sollte er so einfach hineinschauen?
Seine Finger glitten über das kühle Metall wie die eines Blinden, der eine Sache tastend erkunden muss. Er wollte nicht enden wie der Titanide Epimetheus, «der hinterher Überlegende». Trotz der Warnung seines bedachtsamen Bruders Prometheus, keine Geschenke von Zeus anzunehmen, hatte Epimetheus sich von der schönen Pandora einwickeln lassen und mit ihr die Büchse geöffnet, aus der alle Krankheiten und Übel über das Menschengeschlecht kamen, bis in der Büchse nur noch die Hoffnung blieb.
Ob Alexander nun wollte oder nicht, er befand sich in einer ähnlichen Lage. Niemand zwang ihn, die Kassette seines Onkels zu öffnen, aber wenn er es tat, konnte er es nicht mehr ungeschehen machen. Er hatte keine auch nur ansatzweise klare Vorstellung von ihrem Inhalt, doch wenn so viele Menschen deswegen gestorben waren …
Er blickte hinunter zum See und verspürte den Drang, die Kassette im hohen Bogen hinunterzuschleudern. War das nicht das Beste, was man mit einem derart verhängnisvollen Gegenstand tun konnte? Doch er bekämpfte den Impuls, sich auf so einfache Art der Verantwortung zu entziehen. Denn letztlich wäre es nichts anderes gewesen. Die Erleichterung, sich Heinrich Rosins Vermächtnis entledigt zu haben, würde nur kurz währen. Dann würden Zweifel und Selbstvorwürfe kommen. Vielleicht würde er ohne diese Kassette niemals herausfinden, weshalb es zu all diesen Morden gekommen war.
Und noch ein Gedanke quälte ihn: Was war, wenn es noch mehr Tote gab? Er musste dem einmal eingeschlagenen Weg folgen, nur so konnte er sich Gewissheit verschaffen.
Mit einer ruckartigen Bewegung klappte er den Deckel hoch und starrte, auf alles gefasst, in den Kasten. Was er sah, enttäuschte ihn. Es lag lediglich ein Buch darin, im Oktavformat, gebunden in fleckiges braunes Leder. Der Einband wies keinen Titel und auch sonst keine Kennzeichnung auf, wie Alexander erkannte, als er das Buch langsam herausnahm. Es lag schwer in seinen Händen.
Als er es aufschlug und die Seiten aus dickem, hellem Papier umblätterte, stellte er fest, dass es kein Druckwerk war, sondern handgeschrieben. Eine Art Tagebuch wohl. Es waren Aufzeichnungen in deutscher Sprache, und sie stammten zweifellos aus einem längst vergangenen Jahrhundert. Mühsam entzifferte er den Titel auf der ersten Seite.
Erregung packte ihn. Der Verfasser war Albert Rosin, sein Ururahn aus den Anfangszeiten der päpstlichen Schweizergarde!
Er blätterte um und versuchte, sich an die altertümliche Handschrift zu gewöhnen. Mit angezogenen Knien auf dem Boden hockend, den Rücken gegen den Fiat gelehnt, begann er zu lesen …
Geheimer Bericht des Guardiknechts
Albert Rosin aus Zürich über die
merkwürdigen Ereignisse, deren Zeuge
er zu Zeiten der Heiligen Liga von
Cognac in Rom und andernorts wurde
Dessen dritter und letzter Teil
War Rom wirklich das Haupt der Welt? Als wir in Venedig eintrafen, begann ich daran zu zweifeln. Noch nie hatte ich eine Stadt wie diese erblickt. Häuser und prachtvolle Paläste, die geradewegs aus dem Wasser wachsen, Kanäle statt Straßen und darauf selbstredend keine Fuhrwerke, sondern Hunderte und Aberhunderte von Barken und Gondeln,
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