Der Engelspapst
schon in den Bergen wahrgenommen hatte. Angst und Trauer beherrschten ihre Züge, aber da war noch mehr: Verzweiflung, Wut – Zorn.
«Die Menschen, die sich mit diesen Worten geißeln, gehören einem religiösen Orden an», sagte sie. «Einem geheimen, dadurch aber umso mächtigeren Orden. Er nennt sich Totus Tuus, weil seine Mitglieder sich selbst aufgeben müssen, um ganz für den Herrn da zu sein. Oder für das, was der Orden für gottgefällig erklärt.»
«Tut mir Leid, von solch einem Orden habe ich noch nie gehört.»
«Totus Tuus wäre kein geheimer Orden, wenn alle Welt von ihm gehört hätte. Und doch könntest du ihm gut angehören, denn außer Geistlichen, Ökonomen und Politikern sind in seinen Reihen viele Militärs, was wohl mit seiner Entstehungsgeschichte zusammenhängt.»
Sie schloss die Augen und schwieg fast eine Minute, wie um sich zu besinnen. Oder wie um einen großen Schmerz niederzuringen.
Als sie die Augen wieder öffnete, sagte sie: «Im neunzehnten Jahrhundert war der Kirchenstaat starken Erschütterungen ausgesetzt. Erst von Napoleon Bonaparte aufgelöst, dann auf dem Wiener Kongress völkerrechtlich wiederhergestellt, sah er sich zunehmend von den nationalen Bestrebungen der italienischen Bevölkerung bedroht. Schließlich konnte der Papst seinen weltlichen Machtanspruch nur noch mit Hilfe ausländischer Schutztruppen behaupten, darunter kurioserweise französische Soldaten, die Bonapartes Neffe, Kaiser Napoleon III., zur Verfügung stellte. Als Napoleon die Truppen für den Krieg gegen Deutschland abzog, marschierte im September 1870 die Armee des Königreiches Italien in Rom ein. Per Volksabstimmung wurde die päpstliche Herrschaft für erloschen erklärt. Das Gebiet des Kirchenstaats wurde dem italienischen Königreich einverleibt und Rom zu dessen Hauptstadt bestimmt. Papst Pius IX., der sich kurz zuvor, auf dem Ersten Vatikanischen Konzil, noch für unfehlbar hatte erklären lassen, sah sich jeglicher weltlicher Macht beraubt. Er und seine Nachfolger haben sich schmollend im Vatikan verschanzt, den man ihnen gnädigerweise gelassen hatte. Doch ein autonomes, wenn auch winzig kleines, Staatsgebiet wurde der Vatikan erst 1929 durch die Faschisten, die mit dem Abschluss der Lateranverträge ihre eigene Bedeutung herausstreichen wollten.»
Alexander applaudierte gemessen. «Ein hübsches Referat. So ähnlich bekommen es die Rekruten der Schweizergarde an ihrem ersten Unterrichtstag auch erzählt. Aber was hat das alles mit diesem Geheimorden zu tun?»
«Die Auflösung des Kirchenstaats war die Geburtsstunde von Totus Tuus. Nicht alle Italiener waren mit den politischen Umwälzungen einverstanden. Aus denen, die den Kirchenstaat wiederherstellen wollten, speiste sich der Orden. In der ersten Stunde waren es vornehmlich papsttreue Verwaltungsbeamte, die ihre Posten verloren hatten, Kirchenfürsten, die sich um ihren Einfluss und ihre Pfründe gebracht sahen, und viele Angehörige der päpstlichen Streitkräfte. Die wurden aufgelöst, natürlich mit Ausnahme der Schweizergarde.»
«Natürlich», nickte Alexander und fügte säuerlich hinzu: «Und mit Ausnahme einer Kompanie päpstlicher Gendarmen.» Er sah Elena skeptisch an. «Mir scheint, die Gründung von Totus Tuus wurde vorrangig von weltlichen Motiven bestimmt.»
«Die Philosophie des Ordens ist einfach: Um ihren geistigen Machtanspruch geltend zu machen, braucht die Kirche weltliche Macht.»
«Dann war der Orden nicht sonderlich erfolgreich. Der Kirchenstaat ist bis heute nicht wieder erstanden.»
«Mit der Zeit haben die führenden Ordensmitglieder, wie auch die Päpste, begriffen, wie unrealistisch dieses Ziel war. Also haben sie angefangen, ihre weltliche Macht auf andere Weise zu strukturieren. Bischöfe waren nicht länger die Herren über Städte und Länder. Aber wer kann das schon von sich behaupten in einer Zeit, in der Staatsgrenzen immer unwichtiger werden und globale Wirtschaftskonzerne die Geschicke der Welt bestimmen?»
«Die Bosse dieser Wirtschaftskonzerne», sagte Alexander.
«So ist es. Und genau hier hat Totus Tuus angesetzt, in weiser Voraussicht, wie sich heute zeigt. Die Mitglieder des Ordens sind in Industrieorganisationen und Führungsetagen großer Konzerne eingedrungen. Sie sind in der Politik und in Kulturverbänden vom Symphonieorchester bis zum Fußballverein vertreten. Und natürlich befinden sich auch hochrangige Militärs und Kleriker unter ihnen. Sie hatten fast anderthalb Jahrhunderte
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