Der Engelspapst
Außenseiten der Schenkel. Der Blick ist züchtig gesenkt. Nur hin und wieder schaut sie für einen Sekundenbruchteil zu Mutter Assunta auf, die hinter ihrem Schreibtisch sitzt und in einer Akte blättert. In Paolinas Akte.
«Du hast dich gebessert, Paolina.» Erst als die Oberin das Wort an sie richtet, wagt Paolina es, ihr in die Augen zu sehen. «Eine Zeit lang dachte ich, du wolltest dich dem Leben in Gott widersetzen. Aber in den letzten Jahren hast du eine staunens-werte Disziplin und Frömmigkeit gezeigt. Du bist jetzt in einem Alter, in dem du die große Gnade, in diesem Haus leben zu dürfen, durch ein wenig Arbeit entgelten kannst. Weil du dich beim Lernen, Beten und Büßen so sehr anstrengst, wird dir eine Vergünstigung gewährt: Du darfst dir die Arbeit aussuchen.»
«Danke, ehrwürdige Mutter.» Paolina spricht leise und schüchtern, wie Mutter Assunta es von ihren Schäfchen, wie sie die Mädchen zuweilen nennt, erwartet.
«Nun? Wo möchtest du arbeiten?»
«Hier, ehrwürdige Mutter.»
Für einen Moment kommt Bewegung in das starre Gesicht.
Mutter Assunta zieht die Augenbrauen hoch.
«Hier?»
«Ja, ehrwürdige Mutter. Ich möchte Ihnen bei der Führung der Bücher und der Büroarbeit helfen. Früher hat das Schwester Elisabetta getan aber sie ist schon zwei Monate fort.»
Mädchen, die nicht von Pflegeeltern aus dem Waisenhaus geholt werden, verlassen es, sobald sie das zwanzigste Lebensjahr vollendet haben. Von einem Tag auf den anderen sind sie fort, und niemand hört mehr etwas von ihnen. Manche verschwinden schon früher sang- und klanglos. So ist es auch mit Schwester Elisabetta gewesen.
Mutter Assunta sieht Paolina streng an, prüfend, fast tadelnd.
«Du weißt, dass es ein großer Vertrauensbeweis wäre, dich bei der Verwaltungsarbeit helfen zu lassen.»
«Ja, ehrwürdige Mutter», antwortet Paolina kleinlaut und blickt wieder zu Boden. «Verzeihen Sie meinen Übermut. Ich weiß, dass ich eine so große Gnade nicht verdiene. Zur Buße werde ich heute Nacht nackt auf dem Fußboden schlafen.»
«Tu das. Und morgen melde dich nach dem Frühstück bei mir, damit ich dich in die Büroarbeit einweisen kann.»
Nur mühsam unterdrückt Paolina die in ihr aufsteigende Freude. Am liebsten würde sie sie laut hinausschreien. Aber sie hat gelernt zu schweigen. Nicht das kleinste Lächeln schleicht sich in ihre Züge, als sie sich bei der Oberin bedankt. In dieser Hinsicht ist Mutter Assunta ein gutes Vorbild gewesen.
Nachts liegt Paolina nackt auf dem Boden, aber sie schläft nicht. Zu groß ist ihre Freude. Sie lauscht auf die regelmäßigen Atemzüge ihrer schlafenden Treuschwester Bianca und auf das aufgeregte Klopfen ihres eigenen Herzens, wartet drauf, dass endlich der Morgen seine blassroten Finger durch das schmale, vergitterte Fenster schiebt. Der erste Schritt in ein neues Leben, in die Freiheit, ist getan!
In den folgenden sechs Monaten lernt Paolina viel. Sie stellt sich geschickt an, aber Fehler sind bei einer so gestrengen Lehr-meisterin wie Mutter Assunta unvermeidlich. Manchen Abend verbringt Paolina unter Selbstgeißelungen in der Bußkapelle und manche Nacht liegt sie nackt und frierend auf dem Boden. Sie beklagt sich nicht, beschwert sich nicht einmal insgeheim bei Gott, denn sie weiß, wofür sie das alles auf sich nimmt.
Mit der Zeit lässt die strenge Beaufsichtigung durch Mutter Assunta nach. Paolina handelt immer selbständiger, nimmt der Oberin manche zeitraubende Routinearbeit ab. Und Mutter Assunta überlässt ihr tagsüber den Schlüssel für den stets verschlossenen Aktenschrank.
Eines Tages, als Paolina die Oberin draußen in den Gärten weiß, die eine blühende Oase zwischen dem Steinblock des Waisenhauses und dem hohen Gitterzaun bilden, sieht sie die Akten der Waisenmädchen durch. Ganz vorsichtig, damit Mutter Assunta nichts merkt.
Sie findet, was sie sucht: die gelbe Karte mit ihrem Namen, Paolina Orfei. Ihr Geburtsdatum und der Geburtsort Castelfidardo nahe Anna stehen da und die Namen ihrer Eltern, Claudio und Gabriella Orfei. Beide sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Paolina noch kein Jahr alt war.
Merkwürdig erscheint ihr ein Zusatz auf der Rückseite der Karte: Dolores Machado, Jundiai durch W. A. Rodrigues.
Neugierig sieht sie sich andere Karten an. Auffällig ist, dass alle Mädchen schon als Babys in den Hort zu Gottes großer Gnade gekommen sind. Fast bei allen sind beide Elternteile einem Unfall oder einer Krankheit zum Opfer
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