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Der Engelspapst

Der Engelspapst

Titel: Der Engelspapst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jorg Kastner
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gefallen. Und auf der Rückseite der Karten finden sich andere Namen und Orte mit ausländischem Klang. Immer wieder liest sie Jundiai, durch W. A. Rodrigues. Auf einigen Karten ist der Name auch ausgeschrieben: William Antonio Rodrigues.
    Kaum hörbare Schritte auf dem Flur schrecken Paolina auf. So leise und energisch zugleich, man könnte es hoheitsvoll, nennen, schreitet nur Mutter Assunta durchs Haus. Im letzten Augenblick kann Paolina die Karteikarten in Ordnung bringen und den Schrank verschließen.
    Als die Oberin das Büro betritt, sitzt Paolina wieder an ihrem Schreibtisch und geht die Lebensmittelabrechnungen des vergangenen Monats durch. Sie bemüht sich, ruhig zu atmen, und hofft, dass ihr die große Erregung nicht anzumerken ist.
    Tatsächlich sagt die schlanke Frau in Schwarz nichts.
    Was Paolina auf den Karteikarten gelesen hat, lässt sie nicht zur Ruhe kommen. Sie grübelt und grübelt darüber nach, bis der Verdacht zur Gewissheit wird. Für die Einträge auf den Rückseiten gibt es nur eine Erklärung, und die droht Paolina den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Sie kann ihren ungeheuren Verdacht nicht länger für sich behalten, muss sich jemandem anvertrauen, braucht eine Verbündete bei dem Plan, der immer festere Gestalt annimmt. Und wer sollte ihr Vertrauen mehr verdienen als ihre Treuschwester Bianca, mit der sie die seltenen Augenblicke unbeschwerter Fröhlichkeit teilt?
    Bianca ist zwei Jahre älter als Paolina, wird bald neunzehn. Sie wohnen in einem gemeinsamen Zimmer, seit Schwester Elisabetta, Biancas frühere Treuschwester, das Waisenhaus verlassen hat. Fürsorglich kümmert Bianca sich um Paolinas wunden Rücken, wenn diese aus der Bußkapelle kommt. Und manchmal, wenn Paolina morgens auf dem Fußboden aufwacht, liegt eine Wolldecke über ihrem nackten Leib Sie dankt das Bianca umso mehr, als sie weiß, dass die Schwester dafür am nächsten Abend in die Bußkapelle gehen wird.

    In einer kalten Dezembernacht, als der Wind heulend durch die Bergwelt der Abruzzen tobt, berichtet Paolina ihrer Treuschwester von dem ungeheuerlichen Verdacht. Flüsternd, als würde die auf- und abschwellende Stimme des Windes nicht jedes Wort verschlucken.
    «Wir sind nicht die, für die wir uns halten, Bianca. Ich glaube, wir stammen noch nicht mal aus Italien. Ist dir nicht aufgefallen, wie viele von uns eine bräunliche Haut haben?»
    «Und?» Schwester Bianca streicht ihr kastanienbraunes Haar zurück. «Wir arbeiten oft im Garten, sind viel an der Sonne.»
    «Du hast schon eine ziemlich helle Haarfarbe», fährt Paolina unbeirrt fort. «Achte mal darauf, auf eine Blonde hier im Hort kommen zwanzig Dunkelhaarige.»
    «Vielleicht ist das normal», meint Bianca, die, einen Ellbogen auf ihr Kopfkissen und den Kopf in die Handfläche gestützt, ihre Zimmergenossin skeptisch anblickt.
    «Normal?» Paolina muss an sich halten, um nicht schrill aufzulachen. Sie dreht sich auf die Seite und beugt sich ein wenig vor, um Bianca im Dämmerlicht besser erkennen zu können. «Für hier drinnen ist das vielleicht normal. Aber selbst hier gibt es Bücher und Zeitschriften, und sonntags dürfen wir einen Film sehen. Da gibt es mehr Blonde als bei uns.»
    «Und?», fragte Bianca wieder, in dieser Nacht offenbar viel begriffsstutziger als sonst.
    «Die Orte, die hinten auf den Karten notiert sind, liegen sämtlich in Südamerika.» Paolina sagt es beschwörend und sieht Bianca eindringlich an. Sie will die Schwester unbedingt überzeugen; das würde ihre eigene Gewissheit stärken und ihr die Kraft verleihen, ihren Plan zu verwirklichen. «Ich habe im Atlas und im Lexikon nachgesehen. Jundiai ist eine brasilianische Industriestadt in der Nähe von Sao Paulo.»
    Ein ungläubiges Lächeln zieht über Biancas Engelsgesicht.
    «Du spinnst! Du willst doch nicht behaupten, du kommst aus diesem …»
    «Jundiai. Aber doch, nur das ergibt Sinn!» Paolina fällt fast aus dem Bett, so weit lehnt sie sich zu ihrer Treuschwester vor.
    «Wir alle kommen aus Südamerika, und wir haben falsche Namen. Ich heiße Dolores Machado.»
    Als sie den Namen ausspricht, gibt sie ihrer Stimme einen fremdländischen, exotischen Klang, aber es will ihr nicht ganz gelingen. So wie sie sich auch nicht recht an das Ergebnis ihrer eigenen Überlegungen gewöhnen kann.
    «Und jetzt?» Bianca sieht Paolina entgeistert an, als sei diese vom Wahnsinn befallen. «Was willst du tun?»
    «Was wohl? Ich haue ab von hier!»
    Am nächsten Tag fragt Mutter

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