Der Engelspapst
Reine zu bringen.»
Alexander wandte sich um und erblickte einen durchnässten alten Mann in schwarzer Soutane. Er war mager, der Stoff seines viel zu weiten Gewandes warf zahllose Falten und verlieh ihm das Aussehen einer klerikalen Vogelscheuche. Das Gesicht lag halb im Schatten eines altertümlichen Priesterhuts, auf dessen breiter Krempe sich der Regen sammelte. Auf der schmalen Nase saß eine Brille mit lupendicken Gläsern.
«Monsignore Borghesi!», entfuhr es dem überraschten Schweizer.
«Pater», berichtigte der Geistliche mit seiner brüchigen Stimme. «Den Monsignore habe ich abgelegt, als ich den Vatikan verließ.»
Giorgio Borghesi hatte zu den Benefiziaten gehört, den
«Begünstigten». Papst Bonifatius VIII. hatte den Orden nach dem Jubeljahr 1300 eingesetzt, um den Kanonikerorden beim religiösen Dienst in der Peterskirche zu unterstützen. Soweit Alexander wusste, war Borghesi, als er noch im Vatikan lebte, der Beichtvater seines Onkels gewesen. Das Letzte, was er über den Priestermönch gehört hatte, war das Gerücht, er habe sich in die Albaner Berge zurückgezogen. Umso erstaunter war er, dem Alten hier zu begegnen.
Alexanders Gesicht schien Bände zu sprechen, denn der Geistliche sagte: «Eigentlich wollte ich schon gestern kommen, zur Beerdigung von Oberst Rosin und seiner Gemahlin, aber ich bin aufgehalten worden. Vielleicht ist es besser so. Bei der Bestattung soll ein ziemlicher Auftrieb geherrscht haben.»
«Ja», erwiderte der noch immer verwirrte Alexander.
«Kardinal Musolino, die Kurienkardinäle und Bischöfe …»
«Gut, dass ich erst heute gekommen bin.» Borghesi blickte auf und sah Alexander an. Seine Augen wirkten hinter den dicken Brillengläsern seltsam verschwommen, aber vielleicht lag es auch nur an dem Schatten, den die Hutkrempe warf. «Was ich dir zu sagen habe, Alexander Rosin, ist nur für deine Ohren bestimmt. Und doch – eigentlich weiß ich nicht, ob ich es dir überhaupt anvertrauen darf …»
Alexander war plötzlich unwohl zumute. Die Szene hatte etwas Unheimliches. Der alte Benefiziat war wie ein Gespenst vor ihm aufgetaucht. Es war, als hätte der Regen alle anderen Menschen verschluckt. Nur dumpf, wie aus einem der Gräber heraus, drang die Musik der Gardekapelle an Alexanders Ohren. Die Männer vom Musikgeschwader spielten das Lied vom guten Kameraden.
Er fuhr mit der behandschuhten Hand in seinen Kragen, um das Regenwasser fortzuwischen, und sagte härter, als er es eigentlich wollte: «Zum Rätselraten bin ich nicht aufgelegt, Hochwürden.
Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, ziehe ich klare Worte vor.»
«Es geht um deinen Onkel, vielmehr um sein Vermächtnis.»
«Sein Vermächtnis? Ich glaube, ich verstehe nicht ganz, Pater Borghesi.»
Statt sich näher zu erklären, blickte der Alte erschrocken über die Schulter, in die Richtung von Daneggers Grab. Jetzt sah auch Alexander die dunkle Gestalt, die sich undeutlich zwischen den Büschen abzeichnete. Der oder die Unbekannte kam auf sie zu.
«Ich kann jetzt nicht mehr sagen, es ist zu gefährlich. Außerdem sollte ich es dir besser zeigen. Bitte bewahr Stillschweigen über unsere Begegnung. Zu niemandem ein Wort, hörst du? Und besuch mich bald in Santa Maria a Lago di Albano!»
Eilig lief Borghesi davon, in dieselbe Richtung wie vorhin das Mädchen, und verschwand hinter Bäumen und Grabsteinen.
Statt seiner sah Alexander nur noch die verwitterte Statue eines Engels mit mahnend erhobener Hand und sorgenvollem Gesicht.
Der Störenfried, der unter die Eiche trat, schützte sich durch einen großen, stark gewölbten Schirm vor dem Regen. Mit seiner dürren Gestalt und der Brille wirkte er wie eine jüngere Ausgabe des alten Benefiziaten. Hätte es nicht das Gebot des Zölibats gegeben, hätte man ihn für Borghesis Sohn halten können.
«Sie hätten vielleicht doch nicht zu dieser Bestattung kommen sollen, Adjutant Rosin», sagte Gardekaplan Imhoof besorgt.
«Ich habe gesehen, wie Sie plötzlich davonliefen. Es war wohl zu viel für Sie.»
«Sie haben Recht, Monsignore. Ich habe die Belastung unterschätzt.»
«Ruhen Sie sich aus, Alexander. Niemand erwartet, dass Sie zum gemeinsamen Essen erscheinen.»
«Ich werde Ihren Rat befolgen. Danke, Hochwürden.»
Alexander wollte schon gehen, da fragte Imhoof noch:
«Übrigens, mit wem haben Sie eben gesprochen? Von weitem sah er aus wie ein Geistlicher, aber ich konnte ihn nicht erkennen.»
«Ich kannte ihn auch nicht», log Alexander. «Er
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