Der Engelspapst
Alexander das Genick zu brechen. Es lag ganz im Belieben des Siegers.
Mune-gatame!
So hieß der Haltegriff, den Utz anwandte und den Alexander allen Anstrengungen zum Trotz nicht zu sprengen vermochte.
Schweiß perlte auf seiner Stirn und er stieß einen lautlosen Fluch aus.
Er hatte das Aufblitzen in Rassers Augen gesehen, hatte den Angriff vorausgeahnt, und doch hatte Utz ihn besiegt, zum achten oder neunten Mal schon an diesem Vormittag. Einmal am Boden, im stählernen Griff des muskulösen Gegners, musste Alexander aufgeben. Seine Stärken waren Aufmerksamkeit und Gewandtheit, aber heute vermochte er sie nicht zu nutzen. Sein Verstand, ebenso wichtig für den Sieg wie die Muskeln, vielleicht sogar wichtiger, beschäftigte sich mit anderen Dingen.
«Aufstehen!»
Der kleine drahtige Mann, der die Anweisung im Kommandoton ausstieß, trug wie seine Schüler einen Judogi.
Von allen sah er am ehesten aus wie jemand, der in den weißen Kampfanzug aus Baumwolle gehörte. Seine Gesichtszüge mit den schmalen Augen waren eindeutig asiatisch angehaucht. Der Nahkampflehrer hatte einen japanischen Vater und eine italienische Mutter, was ihm den blumigen Namen Floriano Funakoshi eingetragen hatte.
Rassers helfend ausgestreckte Hand zurückweisend, erhob Alexander sich keuchend und wischte mit einem der weiten Jackenärmel über sein schweißverklebtes Gesicht. Funakoshi musste den Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen, und doch hatte Alexander den Eindruck, der kleine Mann sehe auf ihn herab.
Es war wieder ein trüber Tag, und in der Sporthalle der Schweizergarde waren die Neonleuchten eingeschaltet. In dem kalten Licht wirkte Funakoshi streng und gnadenlos wie ein mittelalterlicher Shogun, der kurz davor steht, einem unfähigen Samurai den Kopf abzuschlagen. Seine Augen wurden noch schmaler, schienen die anderen Gardisten aus Alexanders Geschwader, die mit ihren Übungskämpfen beschäftigt waren, nicht mehr wahrzunehmen, konzentrierten sich ausschließlich auf Alexander.
«Signor Rosin, nicht wahr?»
Alexander schluckte und nickte.
«Ich habe ein gutes Gedächtnis für Namen.» Funakoshis einwandfreies Italienisch – er war in diesem Land aufgewachsen
– verscheuchte den Eindruck eines gestrengen Shoguns. «Ich vergesse kaum einen Namen, obschon ich sehr viele Schüler habe. Es ist eine Sache des Willens, des Verstandes – des Geistes.» Die Pause, die er einlegte, unterstrich, dass es sich nicht um belangloses Geplapper handelte. «Sie haben die obligatorische Grundausbildung im Nahkampf längst hinter sich, die Teilnahme an meinen Kursen für Fortgeschrittene ist freiwillig, Signor Rosin. Weshalb haben Sie sich angemeldet und sind dann nicht anwesend?»
«Ich bin hier.»
«Hier ja, aber nicht anwesend. Ihr Körper ist nur ein Teil von Ihnen und, wie ich hoffe, nicht der wichtigste. Beim Judo jedenfalls kommt es auf den Verstand an, auf die Konzentration, und die hängt vom Willen ab. Wollen Sie Ihren Gegner nicht besiegen?»
«Doch», sagte Alexander lahm.
«Warum tun Sie es dann nicht?»
«Ich … ich habe es versucht.»
«Das haben Sie nicht, nicht wirklich! Ihre Versuche, Signor Rassers Angriffe abzuwehren, waren genauso zögerlich wie jetzt Ihre Antworten. Ihr Körper hat zu spät und zu langsam reagiert, weil Sie in Gedanken woanders waren. Sie unterliegen schon in der Kuzushi-Phase und lassen sich zu leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Entsprechend einfach hat es Ihr Gegner in der Tsukuri- und der Kake-Phase, seine Technik einzusetzen.
Wenn Judo auch eine Kampfkunst ist, bei der es darauf ankommt, den gegnerischen Angriffen nachzugeben, muss man doch von vornherein den festen Willen zum Sieg haben. Das Nachgeben hat nur Sinn, wenn die Kraft des Gegners gegen ihn gewendet, wenn er durch seine eigene Kraft besiegt wird!»
Zur Mittagszeit war die Gardekantine erfüllt von schweren Essensdüften, von den Stimmen der Gardisten und vom leisen Gedudel eines Radiosenders, der italienischen Pop spielte.
Alexander und Utz standen in der Ausgabeschlange und reichten ihre Teller den Schwestern der «Kongregation von der Göttlichen Vorsehung Baldegg». Die Baldegger Schwestern waren längst eine Institution in der Gardekaserne und stellten, fortgeschrittenen Alters und jeder weiblichen Verschönerungskunst abhold, keine Versuchung dar. So bodenständig wie ihr Erscheinungsbild war auch ihre Küche. Die Portionen waren reichlich bemessen, der Speiseplan allerdings so wenig abwechslungsreich wie der
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