Der Engelspapst
tägliche Wachdienst, den die Garde im Vatikan versah.
Utz entschied sich für Sauerbraten mit Kartoffeln und Rotkohl, Alexander für Nudeln mit einer Hackfleischsauce – der ultimative Tribut, den die Schwestern der römischen Küche zollten. Utz ließ beim Cantiniere, dem pausbäckigen Feldweibel Villi Budjuhn aus dem Musikgeschwader, eine Karaffe mit dem goldfarbenen Gardewein füllen, der aus dem Gebiet der Castelli Romani kam. Er enthielt nicht viel mehr Alkohol als Fruchtsaft, schmeckte aber gut. Und war günstig.
In früheren Jahrhunderten, als etliche Schweizer Regimenter in der Fremde gedient hatten, war das Tavernenrecht ebenso legendär gewesen wie die Tapferkeit der Reisläufer. Der Wein für die Soldaten durfte mit keinerlei Zuschlägen belastet werden, ein Recht, auf das die Garde des Papstes noch heute pochte. Wie hatte ein Militärhistoriker mit nur halb zwinkerndem Auge geschrieben? Kein Wein, keine Schweizer!
«Nehmen wir den Ecktisch, da sind wir ungestört», schlug Utz vor. «Ich denke, wir sollten miteinander reden.»
Der Vierertisch, den er gemeint hatte, war als einziger unbesetzt.
An allen anderen Tischen saßen in kleinen Gruppen Gardisten in Zivil wie Alexander und Utz, im Arbeitsoverall, in der blaugrauen Alltagsuniform oder in der bunten Galauniform, über die sie zum Schutz gegen Verschmutzung blaue Kittel gestreift hatten. In der Regel setzten sich diese Gruppen aus Angehörigen ein und desselben Geschwaders zusammen. Sie waren Stubenkameraden oder hatten zumindest dieselben Interessen.
Die Einteilung nach Interessengebieten war bei dem engen Dienstplan unumgänglich, wollte man zu gemeinsamen Übungs-stunden für die Fußballmannschaft oder den Musikzug kommen.
Neben dem Musik- und dem Fußballgeschwader, dem Alexander und Utz angehörten, gab es auch noch das Romandgeschwader mit den Romands, den Gardisten aus den französischsprachigen Gebieten der Schweiz. Da es zwischen den Romands und den übrigen Gardisten öfter zu Streitereien kam, hatte es sich bewährt, die Welschschweizer von den Übrigen abzusondern.
Von seinem Platz aus konnte Alexander das große Gemälde von Robert Schiess sehen, das die Gästekantine schmückte. Es zeigte den Bischof von Sitten im Kanton Wallis, Kardinal Matthäus Schiner, der vielen als Vater der päpstlichen Schweizergarde galt, obwohl schon vor seiner Zeit Schweizer für den Papst gefochten hatten. Bereits im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert hatten helvetische Söldner und Ehrenkompanien in päpstlichen Diensten gestanden, und das Jahr 1506, in dem Hauptmann Kaspar von Silenen 150 Schweizer, die neue Leibwache des Papstes Julius II., nach Rom geführt hatte, galt als offizielles Gründungsjahr der Garde. Aber ohne Kardinal Schiner und sein Eintreten für ein Bündnis zwischen der Schweiz und dem Vatikan hätte sie wohl nicht lange Bestand gehabt.
Das Bildnis zeigte ihn hoch zu Ross, in glänzender Rüstung, mit rot leuchtendem Mantel und Hut, umgeben von seinen Soldaten, die jene Waffen trugen, denen die Garde bis heute treu geblieben war: Schwerter und Hellebarden. Als die Spannungen zwischen Rom und Frankreich wuchsen, hatten die Frankreich zugeneigten westlichen Kantone der Eidgenossenschaft Schiner angefeindet. Er war nach Rom geflohen und dort zum Kardinal ernannt worden.
Es schien Alexander, als schwele der Streit zwischen den frankophonen Kantonen einerseits und den alten Kantonen Uri, Schwyz und Unterwaiden andererseits bis heute fort, selbst innerhalb der Garde. Allein mit gesundem Menschenverstand war die Abneigung zwischen Romands und den anderen Gardisten nicht zu erklären. Aber konnte dieser irrationale Zwist den Romand Marcel Danegger dazu getrieben haben, seinen Kommandanten und dessen Frau zu ermorden?
«Meister Funakoshi hat Recht. Dein Körper ist zwar hier, aber geistig bist du sonst wo.» Rassers Bemerkung riss Alexander aus seiner Versunkenheit. Er hatte die Nudeln noch nicht einmal angerührt, während Utz mit gewohnt kräftigem Appetit seinen Teller schon halb geleert hatte. «Dass es dir nicht gerade blendend geht, ist klar, Alex, aber schließlich gibt es Freunde, mit denen man über seine Sorgen reden kann.»
«Reden holt meinen Onkel und meine Tante nicht aus dem Grab zurück.»
Utz nahm einen ordentlichen Schluck vom Gardewein und wischte mit dem Handrücken über seine feuchten Lippen. «Aber Reden bewahrt dich vielleicht davor, mit deinen Gedanken bei den Toten festzukleben. Außerdem habe ich das
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