Der Engelsturm
versucht, uns zu sagen, dass etwas nicht stimmt; ich war nur zu dumm, auf sie zu hören. Aber er …«
»Er hatte Angst.« Miriamels Worte klangen distanziert, beinahe erhaben, als gingen sie die Dinge, von denen sie sprach, nichts an. »Ich weiß selber nicht, ob ich für ein paar Fremde mein eigenes Leben opfern würde. Warum sollte ich diese beiden hassen, weil sie auch nicht dazu fähig sind?«
»Gottes blutiger Baum! « Simon hatte nicht die Kraft dazu, sein Mitleid an Verräter wie Roelstan und Gullaighn zu verschwenden. Irgendwie musste er Miriamel retten, die Fesseln zerreißen, sich den Weg freikämpfen. Leider hatte er keine Ahnung, wie er das anfangen sollte.
Um sie herum entfaltete sich das Lagerleben der Feuertänzer. Mehrere Weißgekleidete versorgten das Feuer und bereiteten eine Mahlzeit. Andere fütterten Ziegen und Hühner, und wieder andere saßen da und unterhielten sich leise. Es gab sogar ein paar Frauen und Kinder unter ihnen. Bis auf die beiden gefesselten Gefangenen und den allgegenwärtigen Schimmer der weißen Gewänder hätte ein Abend auf jedem beliebigen Bauernhof so anfangen können.
Maefwaru, der Anführer der Feuertänzer, war mit dreien seiner Unterführer in der großen Hütte verschwunden. Simon dachte nur ungern darüber nach, was sie dort wohl berieten.
Tiefer senkte sich der Abend. Die Weißgekleideten nahmen ihr einfaches Mahl zu sich, von dem sie ihren Gefangenen nichts anboten. Das Feuer tanzte und flackerte im Wind.
»Stellt sie auf die Füße.« Maefwaru ließ die Augen über Simon und Miriamel huschen und hob den Blick dann zum blauschwarzen Himmel. »Es ist bald so weit.«
Zwei seiner Gehilfen zerrten die Gefangenen hoch. Simons Füße waren taub geworden, und es fiel ihm schwer, mit den zusammengebundenen Knöcheln das Gleichgewicht zu halten. Er schwankte und wäre gefallen, hätte der Feuertänzer hinter ihm nicht seine Arme gepackt und ihn wieder nach oben gerissen. Auch Miriamel neben ihm taumelte. Der Mann, der sie hielt, legte den Arm um sie und ging dabei so grob mit ihr um, als wäre sie ein Stück Holz.
»Fass sie nicht an!«, fauchte Simon.
Miriamel warf ihm einen erschöpften Blick zu. »Das nützt nichts, Simon. Kümmer dich nicht drum.«
Der Feuertänzer an ihrer Seite grinste und tätschelte ihre Brüste, aber ein scharfer Zuruf von Maefwaru ließ ihn sofort einhalten. Der Weißgewandete fuhr herum und sah seinen Anführer an. Miriamel hing schlaff in seinem Arm. Ihr Gesicht zeigte keine Regung.
»Schwachkopf!«, schnarrte Maefwaru. »Diese beiden sind nicht zu deiner Unterhaltung da. Sie gehören ihm – dem Meister. Verstehst du mich?«
Miriamels Peiniger schluckte und nickte hastig.
»Wir müssen gehen.« Maefwaru drehte sich um und ging auf den Rand der Lichtung zu. Der Feuertänzer hinter Simon gab ihm einen derben Stoß. Simon kippte um wie ein gefällter Baum. Er bekam plötzlich keine Luft mehr, und die Nacht flimmerte von tausend Lichtern.
»Ihre Beine sind gefesselt«, bemerkte der Feuertänzer gelassen.
Maefwaru wirbelte herum. »Das weiß ich! Nimm ihnen die Fußstricke ab.«
»Aber … wenn sie weglaufen?«
»Bindet ihnen ein Seil an den Arm«, erklärte der Anführer, »und befestigt das andere Ende an euren Gürteln.« Er schüttelte mit kaum verhohlenem Abscheu den kahlen Kopf.
Kurz flammte in Simon ein Funken Hoffnung auf, als der Verhüllte ein Messer zog und sich bückte, um die Knoten an Simons Fesseln zu durchtrennen. Wenn Maefwaru, wie es aussah, hier der einzig kluge Kopf war, bot sich ihnen vielleicht doch noch eine Chance.
Sobald Miriamel und er wieder laufen konnten, banden ihnen dieFeuertänzer Stricke um den Leib und stießen sie vorwärts wie widerspenstige Ochsen. Wenn sie stolperten oder nicht schnell genug gingen, stach man sie mit Speerspitzen. Die Speere hatten eine eigentümliche Form, kurz, mit schmalem Heft, und waren sehr scharf. Mit den Speeren, die Simon kannte, besaßen sie nur wenig Ähnlichkeit.
Maefwaru trat in die Büsche am Waldrand und verschwand. Offenbar wollte er sie zu einer anderen Stelle bringen. Simon war ein wenig erleichtert. Er hatte lange auf das große Feuer gestarrt und sich schlimme Dinge ausgemalt. Wenigstens führte man sie weg von hier. Vielleicht vergrößerte das ihre Aussichten auf eine Flucht. Möglicherweise bot sich sogar unterwegs eine Gelegenheit. Er schaute sich um und entdeckte enttäuscht, dass ihnen fast alle Feuertänzer zu folgen schienen, eine weiße
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