Der Engelsturm
haben nicht mehr so viel Zeit, Miri.«
»Versuch es trotzdem«, beharrte sie. »Schaden kann es nicht. Vielleicht ist Jiriki ja in der Nähe. Es kann doch nichts schaden!«
»Aber ich kann den Spiegel nicht einmal sehen«, wandte Simon ein. »Wie soll ich von ihm Gebrauch machen, wenn ich nicht hineinschauen kann?«
»Versuch es doch wenigstens!«
Simon verbiss sich eine Entgegnung, holte tief Luft und zwang sich, an sein eigenes Gesicht zu denken, wie er es das letzte Mal im Spiegel der Sithi gesehen hatte. Im Allgemeinen hatte er ein gutes Gedächtnis, jetzt aber konnte er sich an bestimmte Einzelheiten auf einmal nicht mehr erinnern – welche Augenfarbe hatte er nun ganzgenau? Und die Narbe auf seiner Wange, das Brandmal des Drachenblutes, wie lang war sie? Reichte sie über die Unterseite seiner Nase hinaus?
Einen kurzen Augenblick lang, als die Erinnerung an den sengenden Schmerz von Igjarjuks schwarzem Blut in ihm aufstieg, kam es ihm vor, als erwärme sich der Rand des Spiegels unter seinen Fingern. Gleich darauf jedoch war das Holz wieder kalt. Er versuchte, das Gefühl wieder heraufzubeschwören, hatte aber keinen Erfolg. Vergeblich versuchte er es immer wieder.
»Sinnlos«, flüsterte er endlich müde. »Ich schaffe es nicht.«
»Du gibst dir nicht genug Mühe«, fauchte Miriamel.
Simon blickte auf. Die Feuertänzer kümmerten sich nicht um sie. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf die unheimliche Szene gerichtet, die sich jetzt vor dem Feuer abspielte. Man hatte Roelstan und Gullaighn, die beiden Abtrünnigen, auf den großen Felsblock hinaufgeschleppt. Ihre vier Bewacher standen hinter ihnen und hielten sie an den Knöcheln fest, sodass die Köpfe der Gefangenen über den Rand nach unten hingen und ihre Arme hilflos daneben baumelten.
»Usires Ädon!«, fluchte Simon. »Seht Euch das an!«
»Schau nicht hin, Simon. Konzentriere dich auf den Spiegel.«
»Ich habe Euch doch gesagt, dass es nicht geht. Und es würde uns auch nicht das Geringste nützen.« Er hielt inne und starrte auf den verzerrten Mund des kopfüber hängenden Roelstan, aus dem unzusammenhängende Schreie gellten. Vor ihm standen die drei Nornen und sahen zu ihm auf wie zu einem interessanten Vogel, der oben auf einem Ast sitzt.
»Beim blutigen Baum!« , fluchte Simon wieder und warf den Spiegel auf den Boden.
»Simon!« Miriamel war entsetzt. »Hast du den Verstand verloren?? Versuch ihn aufzuheben!«
Simon hob den Fuß und trat mit dem Absatz voll in den Spiegel. Das Glas war sehr dick, aber er drehte es so, dass es gegen den Baum lehnte, und trat nochmals fest zu. Der Rahmen gab nicht nach, aber die kristallene Oberfläche zersprang mit leisem Knacken. Kurz duftete es nach Veilchen. Wieder trat Simon zu und verstreute durchsichtige Scherben.
»Du bist verrückt geworden!«, flüsterte die Prinzessin verzweifelt.
Simon schloss die Augen. Vergib mir, Jiriki. Aber Morgenes hat mir einmal gesagt, ein Geschenk, das man nicht fortwerfen darf, ist kein Geschenk, sondern eine Falle. Er bückte sich, so tief er konnte, aber der Strick, der ihn am Stamm festhielt, verhinderte, dass seine Finger die Spiegelscherben erreichten.
»Kommt Ihr ran?«, fragte er.
Miriamel warf ihm einen kurzen Blick zu und schob sich dann nach unten, soweit sie dazu imstande war. Aber auch sie trennten noch mehrere Handbreit Boden von ihrem Ziel. »Nein. Warum hast du das getan?«
»Er hätte uns nichts genützt«, erklärte Simon ungeduldig. »Jedenfalls nicht in einem Stück.« Er angelte mit dem Fuß nach einem der größeren Scherben und zog ihn näher heran. »Helft mir.«
Mit unendlicher Geduld zwängte er seine Zehen unter das Kristallstück und versuchte es so hoch zu heben, dass es in Miriamels Reichweite gelangte. Aber die dafür nötige Verrenkung war zu schwierig, und der Scherben rutschte ab und fiel wieder auf die Erde. Simon biss sich auf die Lippen und unternahm einen neuen Versuch.
Dreimal sprang der Scherben vom Fuß und zwang sie, von vorn zu beginnen. Zum Glück waren Feuertänzer und Nornen von den Vorbereitungen für ihr Ritual, welcher Art es auch sein mochte, vollständig in Anspruch genommen. Als Simon einen verstohlenen Blick auf den Mittelpunkt der Lichtung warf, lagen Maefwaru und seine Anhänger dort vor dem großen Stein auf den Knien. Roelstan hatte aufgehört zu schreien. Er gab schwache Laute von sich und zappelte dabei so heftig, dass sein Kopf gegen den Felsen schlug. Gullaighn hing reglos vornüber.
Als der
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