Der Engelsturm
ersten Mal erkennen konnte. Jäh stiegen Freude und Schmerz in Simon auf, als er sich an das vertraute, beruhigende Lied der Möwen erinnerte, und er dachte an seinen Vater, den Fischer, den er nie kennengelernt hatte.
Endlich, als die fast senkrechte Wand des Berges wie eine riesige Mauer vor ihnen aufragte, lagerten sie in einer felsigen Schlucht. Der Wind war hier schwächer, und das Swertclif selbst hielt einen großen Teil des Regens ab. Simon lächelte grimmig bei dem Gedanken, dass das Warten des Riesen nun ein Ende hatte: Heute Nacht würden er und seine Gefährten in seinem Schoß schlafen.
Niemand wollte als Erster über ihre morgigen Pläne sprechen. Sie redeten so wenig wie möglich, während sie ein Feuer entzündeten und ein bescheidenes Abendessen zubereiteten. Von der freundlichen Kameradschaft, die sonst ihre Abende belebte, war nichts mehr zu spüren. Doch schien Miriamel nicht ärgerlich, sondern nur zerstreut, und auch Binabik bewegte sich so zögernd, als sei er mit seinen Gedanken anderswo.
Simon dagegen fühlte sich überraschend ruhig, fast fröhlich, und war enttäuscht, dass seine Gefährten diese Stimmung nicht teilten. Natürlich waren sie umgeben von Gefahren, und am nächsten Tag stand ihnen Schreckliches bevor – er dachte lieber nicht allzu genau darüber nach, wo das Schwert sich befand und was sie tun mussten, um es zu holen –, aber wenigstens konnte er endlich etwas tun. Etwas, das eines Ritters würdig war. Und wenn es gut ausging – welche Seligkeit! Wenn er Erfolg hatte, würde vielleicht sogar Miriamel einsehen, dass es wichtiger war, Josua das Schwert zu bringen, als zu versuchen, ihren verrückten Vater davon zu überzeugen, er solle einen Krieg beenden, der nicht mehr zu vermeiden war. Aber wenn sie erst einmal Hellnagel in der Hand hatten – der bloße Gedanke: Hellnagel, Priester Johans berühmte Klinge! –, musste doch auch Miriamel begreifen, dass sie den größten Schatz gewonnen hatten, auf den sie überhaupt hoffen durften, und er und Binabik könnten sie dann in die vergleichsweise sichere Umgebung von Josuas Lager zurücklocken.
Simon, die jetzt leere Schüssel vor sich, war noch dabei, über diese Vorstellungen nachzusinnen, als Binabik das Wort ergriff.
»Sobald wir angefangen haben, diesen Berg zu ersteigen«, erklärte der Troll bedächtig, »werden wir nur unter großen Schwierigkeiten wieder umkehren können. Wir sind ohne Wissen, ob sich dort oben Soldaten aufhalten. Vielleicht hat Elias Wachen aufgestellt, um seines Vaters Schwert und Grabmal zu schützen. Gehen wir weiter nach Westen, kommen wir dorthin, wo uns von der großen Burg aus Menschen sehen können. Seid ihr voller Gewissheit – wirklicher, aufrichtiger Gewissheit! –, dass ihr das beide wollt? Bitte bedenkt eure Antwort.«
Simon tat, was sein Freund wünschte, und dachte nach. Es dauerte eine kleine Weile, dann wusste er, was er sagen wollte. »Wir sind jetzt hier. Wenn wir das nächste Mal hier sein werden, wird vielleicht schon überall gekämpft. Es kann sein, dass wir nie wieder so nah an das Schwert herankommen können. Darum halte ich es für töricht, wenn wir nicht wenigstens den Versuch unternehmen, es uns zu holen. Ich gehe hin.«
Binabik sah ihn an und nickte langsam. »Gut. Wir holen das Schwert.« Er wandte sich der Prinzessin zu. »Miriamel?«
»Ich kann dazu wenig sagen. Wenn die Drei Schwerter überhaupt noch eine Rolle spielen, bedeutet das, dass ich versagt habe.« Sie lächelte, aber es war ein Lächeln, das Simon ganz und gar nicht gefiel. »Und wenn es mir nicht gelingt, meinen Vater zu überzeugen, bezweifle ich, dass alles, was danach geschieht, mir noch viel bedeuten wird.«
Der Troll bewegte die geschlossenen Hände. »Sicheres Wissen gibt es nie. Ich will dir helfen, so gut ich kann, und Simon, dessen bin ich sicher, ebenfalls. Aber du darfst auf keine Möglichkeit verzichten, wieder aus der Burg herauszukommen. Wenn du anders denkst, wird es dich unvorsichtig machen.«
»Ich wäre sehr froh, wenn ich wieder herauskäme«, antwortete Miriamel. »Ich möchte meinem Vater helfen, sich selbst zu verstehen, damit er das Morden einstellt. Danach aber will ich ihm Lebewohl sagen. Nach allem, was er getan hat, könnte ich nie wieder mit ihm zusammenleben.«
»Meine Hoffnung ist, dass du erlangst, was dein Wunsch ist«, erklärte Binabik. »So – zuerst gehen wir auf Schwertsuche, dann entscheiden wir, was wir unternehmen können, um Miriamel zu helfen. Für
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