Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
bestimmt ein großartiges, unglaubliches Lied davon singen können. Vielleicht würde ein zukünftiger Shem Pferdeknecht einmal zu einem kleinen Küchenjungen, der ihm mit großen Augen lauschte, sagen: »Hör gut zu, Junge, was ich dir vom tapferen Simon und seinen Freunden erzähle, die mit offenen Augen und leeren Händen in den Rachen der Finsternis ritten …«
    Rachen der Finsternis. Der Ausdruck gefiel Simon. Er stammte aus einem von Sangfugols Liedern.
    Er dachte auf einmal daran, was wirklich mit dieser Finsternis gemeint war – die Dinge, die er gesehen und gefühlt hatte, die grausigen Schatten, die hinter dem Licht und der Wärme des Lebens lauerten und nach ihm griffen –, und ein kalter Schauder überlief ihn, vom Kopf hinunter bis zu den Füßen.
     
    Sie brauchten zwei Tage, um das hügelige Wiesenland zu durchqueren, zwei Tage voller Nebel und kalter Regengüsse. Ganz gleich, in welche Richtung sie gerade ritten, immer schien ihnen der Wind ins Gesicht zu blasen. Simon nieste die ganze erste Nacht und schwitzte viel. Morgens ging es ihm etwas besser.
    Mitten am Nachmittag des zweiten Tages tauchte die Landzunge von Swertclif vor ihnen auf, die scharfe Kante des hohen Felsenhügels,auf dessen Spitze der Hochhorst thronte. Simon starrte in das dämmrige Licht und glaubte einen unfassbar schlanken weißen Strich zu erkennen, der hoch über dem nackten Antlitz des Swertclifs aufragte.
    Es war der Engelsturm, den man sehen konnte, obwohl er von der Vorderseite des Hügels fast eine Meile entfernt stand.
    Simon fühlte, wie sich die Nackenhaare sträubten. Der Turm, dieser große, schimmernde Dorn, den die Sithi gebaut hatten, als die Burg noch ihnen gehörte, der Turm, in dem Ineluki sein irdisches Leben ausgehaucht hatte – er wartete, noch immer wartete er. Aber er war auch der Schauplatz von Simons eigenen kindlichen Streifzügen, die Stätte seiner Phantasien. Er hatte den Turm oder etwas, das ihm glich, in so vielen Träumen erblickt, seitdem er seine Heimat verlassen hatte, dass ihm das Bauwerk selbst nun fast wie ein Traum vorkam. Und unter dem Turm, hinter dem Kliff und von hier aus noch nicht sichtbar, lag der Hochhorst. Simon stiegen Tränen in die Augen, aber sie erreichten seine Wangen nicht. Wie oft hatte er sich nach dem Irrgarten dieser Gänge und Hallen gesehnt, nach den Gärten und den Schlupfwinkeln der Küchenjungen, den warmen Ecken und geheimen Freuden? Er drehte sich nach Miriamel um. Auch sie starrte wie gebannt nach Westen, aber wenn ihre Erinnerungen an die Heimat angenehm waren, verriet ihr Gesicht nichts davon. Sie wirkte eher wie eine Jägerin, die eine gefährliche, schon lange gesuchte Beute endlich aufgespürt hat. Er blinzelte, beschämt, dass sie seine Tränen bemerken könnte.
    »Ich habe mich immer gefragt, ob ich ihn je wiedersehen würde«, erklärte er leise. Eine Regenbö traf sein Gesicht, und er wischte sich, froh über den Vorwand, die Augen. »Es sieht aus wie ein Traum, nicht wahr? Ein seltsamer Traum.«
    Miriamel nickte nur.
    Binabik drängte sie nicht. Er schien zufrieden, abzuwarten und Qantaqa den Boden beschnüffeln zu lassen, während Simon und Miriamel stumm im Sattel saßen und in die Ferne starrten.
    »Kommt, wir wollen unser Lager aufschlagen«, meinte er endlich. »Wenn wir noch kurze Zeit weiterreiten, finden wir Schutz am Fuß des Berges.« Er deutete auf die massive Flanke des Swertclifs. »Dannwerden wir am Morgen besseres Licht haben, um … was immer wir dann tun wollen.«
    »Wir suchen König Johans Grabhügel«, erwiderte Simon bestimmt. »Jedenfalls werde ich ihn suchen.«
    Binabik zuckte die Achseln. »Reiten wir. Wenn wir ein Feuer und ein Essen haben, wird auch die Zeit kommen, in der wir Pläne schmieden können.«
     
    Lange vor dem Abend verschwand die Sonne hinter der breiten Wölbung des Swertclifs. Im kalten Schatten ritten sie weiter. Sogar die Pferde schienen sich unwohl zu fühlen; Simon konnte Heimfinders Widerwillen spüren und dachte, wenn er die Zügel freigäbe, würde sie kehrtmachen und in die Gegenrichtung galoppieren.
    Das Swertclif wartete wie ein unendlich geduldiger Riese. Als sie näher kamen, schien der große, schwarze Hügel nicht nur die Sonne, sondern den ganzen Himmel zu verdunkeln, sich auszudehnen und zu wachsen, bis es aussah, als könnten sie seinem Schatten nicht mehr entkommen. Ganz weit im Süden, gerade hinter den Klippen, sahen sie etwas Graugrünes aufblitzen – der Kynslagh, den man jetzt zum

Weitere Kostenlose Bücher