Der Engelsturm
geworden, so abgeschliffen von der Zeit, als wären sie aus dem Berg selbst hervorgewachsen; der eine, der Johan gehören musste, war noch immer ein Haufen nackter Steine. Am fernen westlichen Rand des Berges erhob sich die dunkle Masse des Hochhorsts, aus dem die nadeldünne Spitze des Engelsturms hell hervorleuchtete.
Binabik blinzelte in die matte Sonne. »Wir haben länger gebraucht, als es meine Hoffnung war. Vor Einbruch der Dunkelheit werden wir nicht mehr hinuntersteigen können.« Er zuckte die Achseln. »Dagegen gibt es kein Mittel. Die Pferde können sich bis zum Morgen selbst füttern; dann kehren wir zu ihnen zurück.«
»Aber was ist mit …« Simon warf einen verlegenen Blick auf Qantaqa: Er hatte gerade ›Wölfen‹ sagen wollen. »Mit … wilden Tieren? Bist du sicher, dass den Pferden nichts zustößt?«
»Pferde verstehen es recht gut, sich zu verteidigen. Auch habe ich in dieser Gegend überhaupt wenige Tiere erblickt, gleich welcher Art.« Der Troll klopfte Simon auf das Knie. »Im Übrigen gibt es nichts, das wir dagegen tun könnten, ohne ein gebrochenes Genick zu wagen oder anderes unerfreuliches Knirschen und Platzen von Knochen.«
Simon atmete tief und begann auf die Grabhügel zuzugehen. »Dann kommt.«
Die sieben Gräber waren in einem noch nicht geschlossenen Kreis angeordnet. Man hatte Platz für andere gelassen, die einst dort ruhen sollten. Bei dem Gedanken überkam Simon eine gewisse abergläubische Furcht. Wer würde eines Tages hier liegen – Elias? Josua? Oder keiner von beiden? Vielleicht waren bereits Entwicklungen in Gang gesetzt worden, die alles verändern würden – nach denen nichts mehr so sein würde, wie man es sich einst vorgestellt hatte.
Sie traten in die Mitte des offenen Kreises und blieben stehen. Der Wind fuhr durch das Gras, ansonsten war es still auf der Anhöhe. Simon ging zu dem ersten Grabhügel hinüber, der schon so tief in die wartende Erde gesunken war, dass er, obwohl recht lang und breit, kaum noch Mannshöhe erreichte. Ein Gedicht kam Simon in den Sinn, Verse und die Erinnerung an schwarze Standbilder in einem düsteren, schweigenden Thronsaal. Leise sagte er:
Und Fingil war der Erste, Blutkönig, wie er hieß,
auf rotem Kriegesflügel von Nord nach Süd er stieß.
Nachdem er angefangen hatte, schien es Unglück zu bringen, wenn er jetzt aufhörte. Er trat zum nächsten Grabhügel, der ebenso alt und verwittert aussah wie der erste. Im Gras glänzten ein paar Steine wie Zähne.
Sein Sohn war König Hjeldin, ein irrer, böser Mann,
der sprang vom Geisterturme, als Toter kam er an.
Der dritte Hügel erhob sich dicht neben dem zweiten, als suche der dort Begrabene noch immer den Schutz seiner Vorgänger.
Ikferdig der Verbrannte, der hielt getreue Wacht,
er traf den Feuerdrachen in finstrer Mitternacht.
Simon hielt inne. Zwischen den ersten drei Hügeln und dem nächsten gähnte eine Lücke, und ein weiterer Vers spukte in seinem Kopf. Gleich darauf wusste er ihn wieder.
Drei Könige von Norden, jetzt alle tot und kalt,
der Norden herrscht nicht länger im Hochhorst stolz und alt.
Er setzte seinen Weg fort, zur zweiten Dreiergruppe, und nun fiel ihm das ganze Lied wieder ein, und er brauchte nicht mehr nach den Worten zu suchen. Miriamel und Binabik standen schweigend hinter ihm, sahen ihm zu und lauschten.
Der Reiherkönig Sulis, genannt der Renegat,
floh Nabban, doch im Hochhorst, da sühnte er die Tat.
Mit Stechpalmkönig Tethtain von Hernystir war’s aus,
er kam wohl durch die Pforte, doch niemals mehr heraus.
Zuletzt der Fischerkönig Eahlstan, ein wahrhaft weiser Mann,
der weckte auf den Drachen, im Hochhorst starb er dann …
Simon stockte. Fast war ihm, als spreche er einen Zauberspruch, als müssten ein paar Worte mehr die Bewohner dieser Grabhügel aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf wecken und sie mit klirrendem Grabschmuck aus der Erde emporsteigen lassen.
Sechs Könige einst herrschten in Hochhorst-Hallen weit,
sechs Herrscher einstmals schritten auf seinen Mauern breit,
sechs Gräber auf den Klippen, hoch über Kynslaghs Gruft,
sechs Könige dort schlafen, bis Jüngster Tag sie ruft…
Als er geendet hatte, wehte der Wind einen Augenblick stärker, drückte das Gras zur Erde und sauste stöhnend über den Gipfel … sonst geschah nichts. Still und geheimnisvoll lagen die Grabhügel und warfen lange Schatten über das Grün.
»Jetzt sind es natürlich sieben
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