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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Großvaters Johan angetan hatten.
    Es war ihr damals schwer genug gefallen, an dem Begräbnis teilzunehmen und zuzuschauen, wie man seinen Körper in die Erde senkte. Sie hatte ihm nie nahegestanden, aber auf seine zurückhaltende Weise hatte er sie geliebt und war freundlich zu ihr gewesen. Sie hatte ihn sich auch nie als jungen Mann vorstellen können, denn er war schon uralt gewesen, als sie noch ein kleines Mädchen war. Aber ein paarmal hatte sie ein Funkeln in seinen Augen oder eine Spannung in seiner gebeugten Gestalt bemerkt, die den kühnen Welteroberer in ihm verrieten, der er einst gewesen sein musste. Sie wollte nicht, dass diese wenigen Erinnerungen dadurch beschmutzt wurden, dass sie …
    »Miriamel! Komm sofort her!«
    Erschrocken von der drängenden Furcht in Binabiks Stimme sah sie auf. Obwohl er sie rief, drehte sich der kleine Mann nicht zu ihr um, sondern glitt in die Öffnung in der Hügelwand und verschwand darin, flink wie ein Maulwurf. Miriamel sprang auf, wobei sie ihren Gestrüpphaufen umwarf, und rannte quer über den ganzen Gipfel. Die Sonne war im Westen bereits untergegangen, der Himmel leuchtete pflaumenrot.
    Simon. Simon ist etwas passiert.
    Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie die kurze Strecke zurückgelegt hatte. Atemlos kam sie am Grab an und sank dort in die Knie. Ihr war schwindlig. Als sie den Kopf durch das Loch steckte, konnte sie nichts sehen.
    »Simon hat …«, schrie Binabik, »Simon hat … Nein!«
    »Was ist denn? Ich kann dich nicht sehen!«
    »Qantaqa!« , kreischte der Troll. »Qantaqa sosa!«
    »Was ist?« Miriamel war vor Schreck wie gelähmt. »Was ist?«
    Die Worte des Trolls kamen in abgehackten Stößen. »Hol Fackeln! Seil! Sosa, Qantaqa!«
    Jäh stieß Binabik einen Schrei aus. Miriamel kniete entsetzt undverwirrt vor der Öffnung. Etwas Furchtbares musste dort unten vorgehen – kein Zweifel, Binabik brauchte sie. Aber er hatte gewollt, dass sie Fackeln und Seil holte, und jeder Augenblick des Zögerns konnte für den Troll und für Simon den Tod bedeuten.
    Etwas Großes schleuderte sie zur Seite, warf sie um wie ein kleines Kind. Qantaqas graues Hinterteil verschwand die Böschung hinunter ins Dunkel. Gleich darauf grollte das wütende Knurren der Wölfin aus der Tiefe zu ihr empor. Miriamel machte kehrt und raste zu der Stelle, an der sie ihr Feuer hatte anzünden wollen, hielt aber mitten im Lauf an, als ihr einfiel, dass der Rest ihres Gepäcks ja gar nicht dort, sondern ein ganzes Stück näher an Priester Johans Grab lag. Verzweifelt blickte sie sich um, bis sie die Sachen auf der anderen Seite des offenen Gräberkreises entdeckte.
    Keuchend, mit Händen, die so zitterten, dass sie Feuerstein und Stahl kaum halten konnte, arbeitete sie wie besessen, bis die Fackel endlich brannte. Sofort griff sie nach einer zweiten; während sie halb wahnsinnig das Seil suchte, steckte sie die zweite Fackel an der ersten an.
    Das Seil war nicht bei ihrem Gepäck. Miriamel brach in einen Schwall von Flussschifferflüchen aus Meremund aus und rannte zum Grabhügel zurück.
    Die Taurolle lag halb unter der von Simon und dem Troll ausgehobenen Erde begraben. Miriamel wickelte sich das Seil lose um den Körper, damit sie die Hände freihatte, und kletterte hastig in den Hügel.
    Es war, als betrete sie einen seltsamen Traum. Qantaqas tiefes Grollen füllte die Grabkammer wie das Summen eines erbosten Bienenschwarms, aber es war noch ein anderer Ton zu hören, ein eigenartiges, schrilles Quieken. Während sich Miriamels Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, zeigte ihr das unsichere Licht der Fackeln zunächst nur die langgestreckte, breite Wölbung der Seepfeil und die abgesackten Balken, die aus dem Erdreich herausstachen wie Rippen. Dann erst bemerkte sie eine Bewegung – Qantaqas heftig zuckenden Schweif und ihre Hinterbeine, das Einzige von ihr, das über das Heck des Bootes hinausragte. Die Erde rings um die Wölfin brodelte von kleinen, dunklen Wesen. Ratten?
    »Binabik!«, schrie sie. »Simon!«
    Als die Stimme des Trolls antwortete, war sie heiser und brüchig vor Entsetzen. »Nein, Miriamel! Lauf fort! Hier wimmelt es von … Boghanik! Lauf!«
    Außer sich vor Angst um ihre Gefährten stolperte Miriamel um das Boot herum. Etwas Kleines, Zirpendes sprang von der Bordwand herunter auf ihren Kopf und fuhr ihr mit den Krallen durchs Gesicht. Aufkreischend schlug sie es fort und drückte es mit der Fackel zu Boden. Einen entsetzlichen Augenblick erkannte

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