Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
hinüberzugelangen. Er würde in den Traum hineingehen, im herrlichen Asu’a wohnen und sein Gesicht in die Bäche tauchen, die es durchzogen. Sie würden nicht mehr zu Staub werden. Er würde in Asu’a leben und nie mehr in diese dunkle, gespenstische Welt bröckelnder Schatten zurückkehren.
    Seine Freunde nie wiedersehen? Alle Pflichten vergessen?
    Aber das Asu’a seines Traums war so wundervoll. In den flackernden Augenblicken seines Erscheinens konnte er Rosen und andere erstaunlich bunte Blumen sehen. Sie rankten sich an den Wänden empor, um in der Sonne zu baden, die durch die hohen Fenster hereinfiel. Er konnte die Sithi sehen, das Traumvolk, das hier wohnte, anmutig und fremdartig wie buntgefiederte Vögel. Der Traum zeigte ihm eine Zeit, bevor die Menschen die Heimstatt der Sithi zerstört hatten. Bestimmt würden die Unsterblichen doch einen verirrten Wanderer aufnehmen … O Mutter der Barmherzigkeit, würden sie ihn willkommen heißen, wenn er aus dem Dunkel zu ihnen kam?
    Müde und schwach wie er war, stolperte Simon über eine lose Bodenplatte und stürzte auf Hände und Knie. Sein Herz lag ihm wie ein Amboss in der Brust. Er konnte kein Glied mehr rühren, keinen Schritt mehr laufen. Alles war besser als diese wahnsinnige Einsamkeit.
    Der weite Saal vor ihm wogte, verschwand jedoch nicht. Eine derGestalten aus der Nebelwolke sich bewegender Formen wurde deutlicher. Es war eine Sitha, deren Haut so golden war wie Sonnenlicht. Ihr Haar glich einer Wolke aus nächtlichem Schwarz. Sie stand zwischen zwei vielfach verschlungenen Bäumen, schwer von silbrigen Früchten, und wandte ihren Blick ganz langsam Simon zu. Sie hielt inne. Ein seltsamer Ausdruck trat auf ihr Gesicht, als höre sie an einem einsamen Ort eine Stimme ihren Namen rufen.
    »Könnt Ihr … könnt Ihr mich sehen?«, keuchte Simon und kroch auf sie zu. Die Sitha fuhr fort, auf die Stelle zu starren, wo er gerade noch gewesen war.
    Entsetzen durchzuckte Simon. Er hatte sie verloren! Seine Muskeln gaben nach, und er fiel flach auf den Bauch. Hinter der Schwarzhaarigen funkelte ein Springbrunnen. Die Tropfen, die im schrägen Licht der Fenster aufsprühten, glitzerten wie Juwelen. Die Frau schloss die Augen, und Simon fühlte am äußersten Rand seines Geistes eine tastende Berührung. Sie schien nur wenige Schritte vor ihm zu stehen und war doch so fern wie ein Stern am Himmel. »Seht Ihr mich denn nicht?«, heulte er. »Ich möchte zu Euch! Lasst mich ein!«
    Sie stand so reglos da wie ein Standbild, die Hände vor dem Leib gefaltet. Das Zimmer mit den hohen Fenstern wurde dunkel, bis sie allein inmitten einer strahlenden Säule zurückblieb. Etwas streifte Simons Gedanken, leicht wie Spinnentritt, sacht wie Schmetterlingsatem.
    Geh zurück, Kleiner. Geh zurück und lebe.
    Dann schlug sie die Augen wieder auf und sah ihn an. In ihrem Blick lag eine so unendliche und gütige Weisheit, dass Simon sich gehoben, getragen und gekannt fühlte. Doch ihre Worte waren bitter für ihn.
    Du gehörst hier nicht hin.
    Sie begann zu verblassen. Einen Augenblick war sie noch eine weitere Schattengestalt im uralten Zug der Erscheinungen. Dann begann auch der schöne, luftige Saal zu flackern und zu verschwinden. Simon lag der Länge nach im Staub. Neben ihm am Boden brannte unruhig seine Fackel, einen halben Schritt vor den ausgestreckten Fingern.
    Sie ist fort und hat mich zurückgelassen.
    Simon weinte, bis keine Tränen mehr kamen, bis er heiser vom Schluchzen war und sein Gesicht wehtat. Dann stand er auf und schleppte sich weiter.
     
    Fast hatte er seinen Namen vergessen. Auf jeden Fall wusste er nicht mehr, wie viele Male er geschlafen und an wie vielen Klumpen Moos er gesaugt hatte. Da stieß er auf die große Treppe.
    Es waren nur noch wenige Lappen übrig, um den zu ersetzen, der gerade an der Fackel brannte. Simon grübelte über die Tragweite dieser Tatsache nach und begriff, dass er schon viel zu weit gegangen war, um den Tümpel mit perdruinesischem Feuer noch einmal aufzusuchen, ehe er im Dunkeln stehen würde. So trat er durch eines der hochgeschwungenen Portale der labyrinthischen Burg und fand sich auf einem riesigen Treppenabsatz. Über und unter dieser freien Fläche wand sich eine breite Treppe kreisförmig um leeren Raum, eine unendliche Folge von Stufen, die nach oben und nach unten im Schatten verschwanden.
    Die Treppe! Eine Erinnerung wurde hochgeschwemmt, wie ein toter Fisch in einem schlammigen Teich. Die … Tan’ja-Treppe?

Weitere Kostenlose Bücher