Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
Doktor Morgenes hat gesagt … gesagt …
    Vor langer Zeit, in einem anderen Leben, hatte man einem anderen Simon geraten, nach einer Treppe wie dieser Ausschau zu halten – und sie hatte ihn hinaufgeführt in Nachtluft und Mondschein und feuchtes, grünes Gras.
    Das bedeutet also … wenn ich hinaufsteige …
    Ein schreckliches, rauhes Lachen brach aus ihm hervor und hallte im Treppenschacht wider. Oben im Dunkel flatterte etwas davon, Fledermäuse oder traurige, kleine Erinnerungen, raschelnd wie eine Handvoll Pergamente. Simon begann die Stufen zu erklimmen. Fast waren schmerzender Knöchel, brennender Durst und furchtbare, völlige Einsamkeit vergessen.
    Ich werde frische Luft atmen. Den Himmel sehen. Ich bin … ich bin … ich bin Simon. Ich werde kein Geist sein.
    Er war noch kein halbes hundert Stufen gestiegen, als er feststellte, dass ein Teil der Wand eingestürzt war und ein schroffesLoch in die Treppe gerissen hatte. Weitere Stufen waren von heruntergefallenen Steinen blockiert.
    »Verfluchter Baum!« , schrie Simon in sinnloser Wut. »Verfluchter, verfluchter Baum!«
    »aum …«, wiederholte das Echo, »aum …«
    Zornig und herausfordernd schwenkte Simon die Fackel über dem Kopf durch die Luft. Die Flamme schoss empor und zischte ins Dunkel. Endlich humpelte er die breite Treppe wieder hinunter, ein Besiegter.
     
    An seinen ersten Aufstieg über die Tan’ja-Treppe vor fast einem Jahr erinnerte er sich kaum noch. Es war ein Weg gewesen, der ihn durch äußere und innere Finsternis geführt hatte, aber bestimmt waren diese elenden Stufen damals nicht so zahlreich gewesen! Fast unmöglich, sich vorzustellen, dass man so weit in die Tiefe steigen konnte, ohne im Rachen der Hölle zu landen.
    Sein mühsamer Abstieg schien mindestens einen Tag zu dauern. Es gab keinen anderen Weg. Die Bogengänge, die auf den Absätzen mündeten, waren eingefallen und der einzig verbleibende Weg führte hinab ins … Gottweißwas.
    Als er endlich haltmachte, um auf einem der staubigen Treppenabsätze auszuruhen, wünschte er sich, die Treppe nie betreten zu haben. Aber der Gedanke, sich diese schier unendliche Zahl von Stufen wieder hinaufzuschleppen, bis er den Tunnel erreichte, aus dem er gekommen war, hatte etwas Entsetzliches. Nein, die einzige Richtung, die ihm blieb, war abwärts. Irgendwo musste selbst diese ungeheure Treppe ein Ende haben. Er rollte sich zusammen und fiel in einen fast schmerzhaften Schlummer.
    Seine Träume waren lebhaft, verwirrend. Drei geradezu quälend lebendige Bilder verfolgten ihn: ein junger, blonder Mann mit Fackel und Speer, der einen steil abfallenden Tunnel hinablief; ein älterer Mann im langen Gewand, gekrönt, über den Knien ein Schwert, darauf ein aufgeschlagenes Buch; eine hohe Gestalt, in Schatten gehüllt, starr aufgerichtet inmitten eines sonderbar beweglichen Fußbodens. Wieder und wieder erschienen ihm diese drei, veränderten sich ein wenig, wurden deutlicher, enthüllten nichts. Der Speerträger hieltden Kopf schief, als höre er Stimmen. Der Grauhaarige blickte beim Lesen auf, als störe ihn plötzlicher Lärm, und das Glühen eines roten Widerscheins färbte die Dunkelheit rot und malte die kraftvollen Züge des Mannes purpurn. Die Schattengestalt drehte sich um. Sie trug ein Schwert in der Hand, und etwas wie ein Geweih spross aus ihrer Stirn …
    Simon erwachte keuchend, erkaltenden Schweiß auf der Stirn, mit zittrigen Gliedern. Das waren keine gewöhnlichen Träume gewesen. Er war in irgendeinen dahinrauschenden Traumfluss gefallen und mitgerissen worden wie ein Stück Rinde, das hilflos dahintreibt. Er setzte sich auf und rieb sich die Augen, aber er befand sich nach wie vor auf dem breiten Treppenabsatz, mitten im Meer der Stufen.
    Träume und Stimmen, dachte er verzweifelt. Ich muss weg davon. Wenn ich mich nicht befreien kann, werde ich sterben.
    An der Fackel brannte jetzt sein vorletzter Lappen. Die Zeit wurde knapp. Wenn er nicht bald einen Weg fand, der ihn zurück zu Luft, Sonne und Mond brachte, würde er hier im Dunkel bleiben müssen, allein mit den Schatten einer toten Zeit. Simon eilte die Stufen hinunter.
    Die Tan’ja-Treppe verschwamm vor seinen Augen, und Simon war wie ein geborstenes Mühlrad. Seine Beine stampften auf und ab, auf und ab, und jedem zweiten Schritt folgte ein scharfer Schmerz, wenn er den verletzten Knöchel zwang, die Last seines Körpers zu tragen. Aus seinem trockenen Mund pfiff flacher Atem. Wenn er vorher noch nicht

Weitere Kostenlose Bücher