Der Engelsturm
Hand zurückzog und an den Mund führte, schmeckte er ganz schwach eine feuchte Süße. Wieder lehnte er sich hinaus, schwankte gefährlich über dem Abgrund und konnte seine Fingerspitze doch nicht in das rieselnde Wasser tauchen. Wütend begann er zu fluchen. Wenn er doch nur eine Schale hätte, einen Becher, einen Löffel!
Denk nach, Mondkalb. Benutz deinen Verstand.
Nach kurzem Überlegen setzte er die Fackel auf den Steg und zerrte sich das zerlumpte Hemd über den Kopf. Er ging in die Knie, hielt den einen Ärmel fest und warf das Hemd so weit hinaus, wie es ging. Es berührte ganz leicht den Wasserfall und wurde sofort nach unten gezogen. Simon riss es zurück, und sein Herz klopfte schneller, als er merkte, wie schwer der Stoff geworden war. Er warf den Kopf in den Nacken und presste das nasse Bündel an den Mund. Die ersten Tropfen schmeckten wie Honig auf der Zunge.
Das Licht flackerte. Der ganze langgestreckte Raum schien nach einer Seite zu kippen. Das Rauschen des Wassers schwoll an und verzischte in Schweigen.
Simons Mund war voller Staub.
Er würgte und spuckte, spuckte wieder, fiel vor Schreck und Wut flach hin, knurrte und fletschte die Zähne wie ein Tier mit einem Dorn in der Seite. Als er aufblickte, konnte er immer noch die Wände sehen, auch die Lücke, die zwischen ihnen und dem Steg klaffte, auf dem er kauerte – so viel stimmte –, aber da war kein strömendes Wasser mehr, nur noch ein etwas hellerer Fleck auf der Steinmauer, dort, wo sein Hemd den Schmutz mehrerer Jahrhunderte weggewischt hatte.
Ein tränenloses Schluchzen schüttelte ihn, als er sich die Schmiere aus dem Gesicht wischte und die letzten Erdkrumen von seiner angeschwollenen Zunge rieb. Er versuchte ein wenig Moos zu essen, um den Staubgeschmack loszuwerden, aber es schmeckte so widerlich, dass ihm beinah wieder übel wurde. Er spuckte den blättrigen Klumpen in den Abgrund.
Was ist das für ein verfluchter, spukhafter Ort. Wo bin ich?
Ich bin allein. Allein.
Noch immer zitternd kam er auf die Füße. Er wollte einen sicheren Ort suchen, um sich eine Weile hinzulegen und zu schlafen. Hier musste er weg. Es gab kein Wasser. Es gab nirgends Wasser. Und auch keine Sicherheit.
Leise Stimmen hoch oben in den Schatten der gewölbten Decke sangen Worte, die er nicht verstand. Ein Wind, den er nicht spüren konnte, ließ die Flamme der Fackel tanzen.
Lebe ich noch?
Ja, ich lebe. Ich bin Simon, ich lebe, und ich werde nicht aufgeben. Ich bin kein Geist.
Er hatte noch zweimal geschlafen und dazwischen so viel von dem bitteren Moos gekaut, dass er nicht zusammenbrach. Mehr als die Hälfte der ölgetränkten Lappen hatte er verbraucht, um die Fackel am Brennen zu halten. Es fiel ihm schwer, sich an eine Zeit zu erinnern, als er die Welt nicht im Schein einer blakenden Fackel erblickt und ebendiese Welt nicht aus menschenleeren Steingängen und wispernden, körperlosen Stimmen bestanden hatte. Er fühlte sich, als sei sein eigenes Ich im Begriff dahinzuschmelzen, als würde auch er zum zwitschernden Schatten.
Ich bin Simon, ermahnte er sich selbst. Ich habe mit dem Drachen gekämpft, mir wurde der Weiße Pfeil verliehen. Ich bin wirklich.
Wie im Traum wanderte er durch die Hallen und Korridore einer riesigen Burg. In lichten Momenten, kurz wie weißgrelle Blitze, konnte er sie von Leben erfüllt sehen, die Säle voll mattgoldener Gesichter, die Wände aus hellem, schimmerndem Stein, in dem sich die Farben des Himmels spiegelten. Es war ein Ort, wie er ihn noch nie erblickt hatte, mit steinernen Rinnen, die von einem Raum zumanderen liefen, mit Wasserfällen, die von Zimmerwänden herabschäumten. Aber so viel es auch plätscherte, es blieb Traumwasser. Jedes Mal, wenn er danach griff, wurde das Versprechen unter seiner Hand zu Schmutz und Sand. Die Wände verdunkelten sich und sackten zusammen, das Licht wurde trübe, das herrliche Maßwerk bröckelte, und Simon fand sich in zerstörten Hallen aus Stein wieder, ein heimatloser Geist in einem endlosen Grabmal. Hier haben Sithi gelebt. Das war Asua, das leuchtende Asua. Und auf irgendeine Weise sind sie immer noch hier … als träumten die Steine selbst von der uralten Zeit.
Eine verführerische Vorstellung begann, seine Gedanken zu vergiften. Amerasu die Schiffgeborene hatte gesagt, Simon wäre der Traumstraße näher als andere. Hatte er nicht bei seiner Ritterwache auf dem Sesuad’ra die Trennung der Familien gesehen? Vielleicht fand er ja einen Weg, um …
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