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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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einen Augenblick an, so begannen die Steinbilder am Rande seines Gesichtsfeldes zu schimmern und sich zu bewegen, als seien sie eine Art pergamentdünner Lebewesen, fadenschlank. Auch Wände und Boden hatten etwas Fließendes. Wenn der mühsam vorwärtsstapfende Simon einen Augenblick zur Seite sah, von einer neuen, verschwommenen Bewegung im Augenwinkel verlockt, oder wenn das Flackern der Fackel ihn ablenkte, war es, als veränderten sie sich. Der lange, ebene Gang führte auf einmal schräg aufwärts oder verengte sich. Drehte Simon sich dann um und sah erst danach wieder hin, war alles wie zuvor.
    Aber das waren nicht die einzigen Streiche, die seine Umgebung ihm spielte. Die Geräusche, die er früher schon vernommen hatte, kehrten zurück, Stimmen und rauschendes Wasser, vermehrt um eine fremdklingende Musik ohne Ursprung, die sich anhörte wie von Geistern gespielt. Unerwartete Düfte strömten auf Simon ein, ein jäher Schwall lieblicher, blumiger Luft, die rasch einer feuchten Leere wich, nur um gleich darauf vom scharfen Geruch nach Verbranntem verdrängt zu werden.
    Es war zu viel für Simon. Am liebsten hätte er sich hingelegt und geschlafen, um beim Erwachen alles fest und unveränderlich vorzufinden. Selbst die Eintönigkeit der höhergelegenen Tunnel war dieser Atmosphäre vorzuziehen. Es war, als wandere er am Grund des Meeres dahin, wo Strömungen und schwankendes Licht die Dinge wogen und alles tanzte und schimmerte.
    Wie lange glaubst du so in der leeren Erde umherstreifen zu können, Mondkalb, bevor du wahnsinnig wirst?
    Ich werde nicht wahnsinnig, antwortete er sich selbst. Ich bin nur müde. Müde und durstig. Wenn es nur nicht überall diese Wassergeräusche gäbe. Das macht alles nur noch schlimmer.
    Er holte etwas von dem Moos aus der Tasche und kaute es im Gehen, zwang sich, das widerwärtige Zeug hinunterzuschlucken.
    Es bestand kein Zweifel, dass er auf einen Ort gestoßen war, an dem einmal Menschen … oder andere Wesen … gelebt hatten. Die Decke über ihm wölbte sich höher, unter Geröll und Staub lag ebener Boden, und die Quergänge, fast alle von Steinen und Erde verschüttet, waren von gemeißelten Bögen eingefasst, schmutzig und so abgewetzt, dass sie glatt wie Kiesel aussahen, jedoch eindeutig Werke sorgfältiger Baukunst.
    Vor einem dieser Eingänge blieb Simon einen Augenblick stehen, um seinem schmerzenden Knöchel Ruhe zu gönnen. Er schaute die Anhäufung von Steinen und Erde an, die die Öffnung verstopfte, und während er so daraufblickte, schien der Erdhaufen plötzlich dunkler und schließlich schwarz zu werden. Inmitten der Schwärze blühte ein kleines Licht auf, und Simon hatte auf einmal das Gefühl, durch eine Tür zu sehen.
    Er trat einen Schritt näher. In der Dunkelheit erkannte er einen einzelnen, leuchtenden Fleck, eine mattschimmernde Kugel aus Licht. Davor, in schwaches Glühen getaucht, ein … Gesicht.
    Simon schnappte nach Luft. Das Gesicht hob sich, als hätte der dort in fast völliger Finsternis Sitzende ihn gehört, aber die schrägen Augen blickten ihn nicht an, sondern starrten an ihm vorbei. Es waren die Züge einer Sitha, so zumindest schien es Simon. In den leuchtenden Augen lag eine Welt von Schmerz und Leid. Er sah, wie die Lippen sich sprechend bewegten, die Brauen in trauriger Frage hochgezogen wurden. Dann verschwamm das Dunkel, das Licht erlosch, und Simon stand da, die Nase nur fingerbreit von dem verschütteten Eingang entfernt.
    Trocken. Trocken. Tot. Tot.
    Ein Schluchzen saß ihm in der Kehle. Er wandte sich wieder dem langen Gang zu.
     
    Simon wusste nicht, wie lange er schon in die Flamme seiner Fackel gestarrt hatte. Sie schwankte vor seinen Augen, ein Kosmos aus gelbem Licht. Nur mit größter Anstrengung konnte er den Blick von ihr losreißen.
    Die Wände zu beiden Seiten hatten sich verflüssigt.
    Simon blieb in staunender Bewunderung stehen. Irgendwie hattesich der Tunnelboden in einen schmalen Steg über einer unendlichen Schwärze verwandelt, waren die Wände zurückgewichen. Dort, wo er stand, berührten sie den Boden nicht mehr, und ihre steinerne Verkleidung war vollständig verdeckt von einer herabströmenden, breiten Wasserdecke. Er konnte hören, wie es hinab ins Leere rauschte, und sehen, wie sich das Fackellicht unruhig in der flüssigen Weite spiegelte.
    Simon trat an den Rand des Stegs und streckte die Hand aus. Seine Finger berührten … nichts. Er spürte einen feinen Nebel an den Fingerspitzen, und als er die

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