Der Engelsturm
einschlagen wollte, setzte er den Fuß ins Leere.
Mit einem Aufschrei klammerte Simon sich am Eingang des Tunnels fest. Die Fackel fiel ihm aus der Hand und polterte in das Dunkel hinunter, in dem er um Haaresbreite selbst gelandet wäre. In angstvoller Erwartung sah er zu, wie sie aufprallte und fortrollte. Endlich blieb sie liegen, flackerte … ging aber nicht aus.
Stufen. Seine Fackel lag auf einer roh aus dem Stein gehauenen Treppe, die nach unten führte. Das erste Dutzend Stufen war eingestürzt oder abgeschlagen worden. Nur ein paar rauhe Bruchkanten waren übriggeblieben.
Simon wollte nicht hinunter. Er wollte nach oben.
Aber die Treppe! Vielleicht ist dort unten etwas – etwas, das weiterbringt. Was könnte schlimmer sein als das, was dir gerade widerfährt?
Nichts. Alles.
Es war eine Abzweigung nach links, sodass er sich auch dann nicht völlig verirrt haben würde, wenn sich seine Wahl als schlecht erwies. Allerdings war es weit leichter, sich in das Loch hinunterzulassen, das durch die fehlenden Stufen entstanden war – immerhin war es um einiges tiefer, als Simon lang war –, als hinterher, wenn er seine Meinung änderte, wieder hinaufzuklettern. Vielleicht sollte er sich doch lieber in einem der anderen Gänge umsehen.
Was für ein Unsinn! , schalt er sich selbst. Musste er nicht auf jeden Fall hinunter? Er brauchte doch seine Fackel!
Er setzte sich hin, ließ die Beine in das stufenlose Loch baumeln und zog den Streifen Dörrfleisch aus der Tasche. Er brach ein kleines Bröckchen ab, lutschte nachdenklich daran und schaute in die Tiefe. Der Fackelschein zeigte ihm, dass man die Stufen eckig behauen, sonst aber nicht bearbeitet hatte. Sie sollten brauchbar sein, nichts weiter. Man konnte ihnen nicht entnehmen, wohin sie führten.
Er kaute und schaute. Er genoss den salzigen Rauchgeschmack, von dem ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Wie wundervoll, wieder etwas Festes zwischen den Zähnen zu haben!
Schließlich stand er auf und ging noch einmal in den Tunnel. Dort,wo das Licht der Fackel nicht mehr hinreichte, tastete er sich mit den Händen weiter, bis er an der Wand eine der moosbewachsenen Stellen fand. Er riss mehrere Handvoll davon ab und stopfte sich die klebrige Masse in die Tasche. Dann kehrte er zu dem Treppenschacht zurück und spähte nach unten, bis er den besten Landeplatz gefunden zu haben glaubte. Er schob die Beine über den Rand, rollte sich auf den Bauch und glitt so vorsichtig wie möglich hinunter. Die Steine schürften ihm Bauch und Brust auf. Er biss die Zähne zusammen. Als er gestreckt nach unten hing, ließ er sich fallen.
Ein kleiner loser Stein, vielleicht ein Bruchstück der zerstörten Stufen, lauerte ihm auf wie eine Viper. Er fühlte, wie ein Fuß vor dem anderen den Boden berührte und wie sich der Knöchel verdrehte. Jäher Schmerz durchzuckte sein Bein.
Mit Tränen in den Augen blieb er auf der obersten Stufe liegen und verfluchte sein Schicksal. Dann richtete er sich auf und rutschte ein Stück weiter, bis er die heruntergefallene Fackel ergreifen konnte. Er lehnte sie neben sich und zog den Stiefel aus, um den verletzten Knöchel zu untersuchen.
Trotz des Schmerzes konnte er das Gelenk einigermaßen bewegen. Seines Erachtens war nichts gebrochen – wenn es sich anders verhielt, konnte er freilich auch nichts tun. Er streifte das Hemd über den Kopf und riss einen weiteren Streifen davon herunter. Dann zog er das immer kleiner werdende Kleidungsstück wieder an. Er wickelte den Stoff so eng wie möglich um Fuß und Knöchel, schlüpfte wieder in seinen Stiefel und versuchte aufzutreten. Er konnte gehen, fand er, aber es würde wehtun.
Nun denn, auf geht’s. Was bleibt dir anderes übrig?
Hinkend machte er sich an den Abstieg.
Simon hatte gehofft, die Stufen würden ihn zu einem Ort führen, der der Wirklichkeit näher wäre als die endlosen, sinnlosen Tunnel. Aber je wirklicher seine Umgebung wurde, desto unwirklicher wurde sie zugleich.
Nach mehreren Dutzend kleiner, aber schmerzhafter Absätze hörte die Treppe auf, und Simon humpelte durch ein zackiges Loch in einen anderen Gang, einen Weg, der einen ganz anderen Eindruckerweckte als die Tunnel, die er bisher durchwandert hatte. Zwar überwuchert von Moos und fast schwarzverkrustet vom Staub der Jahrhunderte, bestand er nichtsdestoweniger aus sorgfältig behauenem und geglättetem Stein, und die Wände waren mit Meißelarbeiten reich verziert. Starrte Simon diese Ornamente länger als
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