Der Engelsturm
dazugehört, aber auch das Aufblitzen von Schilden, als eine gepanzerte Streitmacht zu einem hohen, silbernen Tor hinausritt; eine Ansammlung splitterdünner Türme in allen Regenbogenfarben, ein gelbes Glitzern, als ein Rabe den Kopf zur Seite legte und ein helles Auge öffnete, ein Reif, der golden funkelte, ein Baum, dessen Rinde so bleich wie Schnee war … und ein dunkles Rad, das sich drehte …
Simon rieb sich die Schläfen und versuchte, die Bilder zu vertreiben. Sein Kopf, der sich so hohl und luftig angefühlt hatte, pochteund hämmerte. Stöhnend setzte er sich auf. Ganz gleich, was mit ihm geschah, die Träume würden ihn weiter plagen. Aber es gab anderes, über das er nachdenken, Dinge, die er tun musste – zumindest versuchen konnte. Essen. Fliehen.
Er sah nach oben zu seiner Fackel, die auf einer Stufe der schmalen Treppe lag. Wie unklug von ihm, so herumzuspritzen und dabei sein Licht zu gefährden. Lange würde es freilich ohnehin nicht mehr brennen. Wasser hatte er gefunden, aber seine Lage war immer noch äußerst übel.
Der Schein der Fackel schien plötzlich heller zu werden. Simon kniff die Augen zusammen und merkte, dass es nicht an der Fackel lag, sondern dass die ganze riesige Kammer sich allmählich mit einem rauchigen Licht füllte. Da war … etwas … ganz nah. Etwas Starkes. Er konnte es spüren wie einen heißen Atem im Genick.
Simon wälzte sich, nackt und hilflos wie er war, auf die andere Seite. Der große Teich war jetzt deutlicher zu sehen. Phantastische Steinmetzarbeiten schmückten die vorderen Wände und die hohe Decke. Doch selbst im wachsenden Licht konnte Simon die andere Seite des Teichs nicht erkennen. Eine Art Nebel schwebte über dem Wasser und nahm ihm die Sicht.
Während er noch staunend starrte, stieg aus dem Dunst in der Mitte des Teichs eine Schattengestalt, ins Ungeheure vergrößert vom grauen Nebel und unbestimmten Licht. Sie war hochgewachsen und trug einen wogenden Mantel, und aus ihrem Haupt sprossen Hörner … ein Geweih.
Die Gestalt verneigte sich – nicht ehrfürchtig, eher voller Verzweiflung.
Jingizu .
Die Stimme rollte durch Simons Kopf, klagend und doch zornig, machtvoll und kalt wie Eis, das krachend Steine spaltet. Der Nebel wallte und strudelte. Simon fühlte, wie seine eigenen Gedanken davongewirbelt wurden.
Jingizu. So viel Leid.
Simons Geist flackerte wie eine Kerze im Sturm. Die Macht des Wesens, das da durch den Nebel glitt, drohte ihn zu vernichten. Er wollte schreien und brachte keinen Ton hervor. Die grausige Leereseines Gegenübers verschlang ihn. Er fühlte, wie er schrumpfte, verblasste, sich auflöste …
Wieder bewegte sich das Licht, um dann jäh zu erlöschen. Der Teich wurde wieder zum großen, schwarzen Oval, und nur das gelblichtrübe Glühen der tropfenden Fackel erhellte den Raum.
Simon lag da und schnappte nach Luft wie ein Karpfen, den man ins Boot zieht. Er wagte nicht, sich zu rühren oder einen Laut von sich zu geben, außer sich vor Angst, das Schattenwesen könne zurückkehren.
Barmherziger Ädon, schenke mir Ruhe. Die Worte des alten Gebetes stiegen wie von selbst in ihm auf. In deinen Armen will ich schlafen, auf deinem Schoß …
Simon hatte nicht mehr die geringste Lust, den Schritt in die Traumwelt zu tun und sich den Geistern dieses Ortes zuzugesellen. Von allen Orten, die er hier unten gesehen hatte, war diese Stätte die seltsamste, entsetzlichste und mächtigste. Wasser oder nicht, hier konnte er nicht bleiben. Und außerdem würde sein Licht bald erlöschen und die Finsternis ihn verschlucken.
Bebend kniete er vor der Treppe nieder und trank sich noch einmal satt. Er fluchte, weil er keinen Wasserschlauch besaß. Nachdem er Hosen und Stiefel wieder angezogen hatte, tauchte er sein Hemd in den Teich. Es würde eine Zeitlang feucht bleiben, und er konnte das Wasser aus ihm herauspressen, wenn er es brauchte. Dann nahm er seine Fackel und nahm die Suche nach einem Weg ins Freie wieder auf. Sein Knöchel war steif geworden, aber er konnte jetzt keine Rücksicht darauf nehmen. Er musste fort von hier.
Der Teich, eben noch Ursprung grauenerregender Erscheinungen, war jetzt ein stummer, schwarzer Kreis.
15
Ein Labyrinth aus Tinte
o sanft wie möglich legte Miriamel ihm die Verbände an. Binabik sagte kein Wort, obwohl seine mit Blasen übersäten Hände heftig schmerzen mussten.
»So.« Sie knüpfte einen sorgfältigen Knoten. »Jetzt lässt du sie am besten eine Weile in Ruhe. Ich mache uns etwas
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