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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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unseren Sankt Sutrin schon einmal gesehen, bevor …« Er zauderte und suchte nach einem Ausdruck, den er nicht fand. »Bevor …«
    »Ja.« Miriamel wusste, dass es klüger gewesen wäre, Unwissenheit zu heucheln, aber der Stolz des alten Mannes war so rührend, dass sie es nicht übers Herz brachte. »Ich habe ihn gesehen. Er war wunderschön.«
    »Nur die große Kirche in der Sancellanischen Ädonitis konnte sich damit messen«, meinte der Alte wehmütig. »Ob sie wohl noch steht? Wir hören jetzt so wenig aus dem Süden.«
    »Bestimmt steht sie noch.«
    »Ach ja? Nun, das ist sehr erfreulich.« Trotz seiner Worte klang er ein wenig enttäuscht, dass der Rivalin seines Doms nicht das gleiche elende Los beschieden gewesen war. »Aber wir sind schlechte Gastgeber – möge der Erlöser uns vergeben!« erklärte er plötzlich und packte mit einer leise zitternden Klaue Miriamels Arm. »Tretetein, hier findet ihr Zuflucht vor dem Sturm. Du und dein Sohn«, er deutete auf Binabik, der erstaunt aufblickte. Der alte Mann hatte schon vergessen, was Miriamel ihm gerade erzählt hatte, »seid hier in Sicherheit. Sie haben uns unsere schönen Dinge geraubt, aber Gottes Auge, das über uns wacht, haben sie uns nicht rauben können.«
    Er führte sie durch den langen Mittelgang zum Altar, einem großen Steinblock mit einem darüber gebreiteten Stofffetzen. Dabei brabbelte er von den herrlichen Kunstwerken, die einst hier oder dort gestanden hatten, und von ihren schrecklichen Schicksalen. Miriamel hörte ihm ohne große Aufmerksamkeit zu. Menschliche Gestalten, die im Schatten an den Wänden lehnten oder in Ecken lagen, erregten ihr Misstrauen. Einige hatten sich lang auf den Bänken ausgestreckt, als schliefen sie. Insgesamt schienen sich mehrere dutzend Personen in der riesigen Kirche aufzuhalten. Niemand sprach ein Wort oder rührte sich. Miriamel kam ein schrecklicher Gedanke. »Wer sind diese Leute?«, fragte sie. »Sind sie … tot?«
    Der Alte sah überrascht auf und schüttelte dann lächelnd den Kopf. »Nein, nein. Es sind Pilger wie ihr auch, Reisende, die einen sicheren Hafen im Sturm suchten. Gott führte sie hierher, und nun genießen sie den Schutz seiner Kirche.«
    Während der alte Mann seine Schilderung des einstigen Glanzes von Sankt Sutrin wiederaufnahm, fühlte sich Miriamel am Ärmel gezupft.
    »Frag ihn, ob sich unter seinem Haus etwas befindet, wie wir es suchen«, wisperte der Troll.
    Kaum hielt ihr Führer einen Augenblick inne, ergriff Miriamel die Gelegenheit. »Gibt es eigentlich Gänge unter diesem Dom?«
    »Gänge?« In den trüben Augen leuchtete ein seltsames Licht auf. »Was meinst du? Es gibt die Katakomben, in denen alle Bischöfe dieser Kirche ruhen, bis der Tag des Abwägens kommt, aber dort geht niemand hin. Es ist … heiliger Boden.« Sichtlich verstört starrte er am Altar vorbei auf eine Stelle, die Miriamel nicht sehen konnte. »Es ist kein Ort für Besucher. Warum fragst du?«
    Miriamel wollte ihn nicht noch weiter beunruhigen. »Man hat mir einmal erzählt, es gebe dort ein … ein Heiligtum.« Sie senkte denKopf. »Jemand, der mir lieb ist, befindet sich in Gefahr. Ich dachte, Ihr hättet vielleicht einen besonderen Schrein …« Sie hielt ihren schnellen Einfall für eine Lüge, aber bei näherer Überlegung wurde ihr klar, dass sie nur die Wahrheit gesagt hatte: Tatsächlich drohte einem Menschen Gefahr, der ihr lieb war. Sie musste eine Kerze für Simon anzünden, bevor sie den Dom wieder verließen.
    »Ah.« Der Alte schien besänftigt. »Nein, so etwas besitzen wir nicht, nichts dergleichen. Doch nun kommt, es ist fast Zeit für die Abend-Mansa.«
    Miriamel wunderte sich. Die Riten wurden also hier noch zelebriert, obwohl die Kirche kaum mehr als eine leere Hülle war. Sie fragte sich, was wohl aus dem dicken, pompösen Bischof Domitis und seiner Schar priesterlicher Untergebener geworden sein mochte.
    Der Alte führte sie zur vordersten Bankreihe am Altar und winkte ihnen, Platz zu nehmen. Die Ironie der Situation entging der Prinzessin nicht. An derselben Stelle hatte sie oft gesessen, zuerst an der Seite ihres Großvaters und dann an der ihres Vaters. Der alte Mann trat hinter den Stein mit der zerschlissenen Decke und streckte die Arme in die Luft. »Kommt, meine Freunde«, sagte er mit lauter Stimme. »Ihr dürft nun zurückkehren.«
    Binabik warf Miriamel einen Blick zu. Sie zuckte die Achseln, weil sie nicht wusste, was der Mann von ihnen wollte.
    Aber die Aufforderung

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