Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
Vom Netzwerk:
einzigen Beobachter. Aus dem Schatten der Wand löste sich eine Gestalt und glitt lautlos durch das Kirchenschiff. Sie passierte den Altar, wobei sie sich ebenso behutsambewegte wie Miriamel und der Troll, und blieb dann eine Weile vor der Tür zu den Gewölben stehen, als lausche sie. Bald darauf schlüpfte der dunkle Schatten durch die Öffnung und schlich leise die Treppe hinab.
    Danach hörte man im düsteren Dom nur noch das gleichmäßige Schnarchen des Bischofs und ein sachtes Flügelrascheln.

16
Wurzeln des weißen Baumes

    ange Zeit stand Simon einfach da und glotzte die erstaunliche Erscheinung an. Er trat einen Schritt näher und tänzelte erregt wieder zurück. Wie war das möglich? Es musste ein Traumbild sein wie so viele andere Trugbilder in diesen endlosen Tunneln.
    Er rieb sich die Augen und öffnete sie wieder. Der Teller stand noch immer in seiner brusthohen Nische neben dem Treppenabsatz. Darauf lagen, hübsch geordnet wie für die königliche Tafel, ein kleiner grüner Apfel, eine Zwiebel und ein Brotkanten, ergänzt durch eine schmucklose, zugedeckte Schüssel.
    Simon wich zurück und warf wilde Blicke nach allen Seiten. Wer tat so etwas? Was konnte einen Menschen veranlassen, mitten in einem leeren Treppenhaus tief unter der Erde so ein vorzügliches Abendessen hinzustellen? Er hob die tropfende Fackel, um die magische Gabe noch einmal zu untersuchen. Es war kaum zu glauben – nein, es war unmöglich. Seitdem er dem großen Teich den Rücken gekehrt hatte, wanderte er nun schon wieder seit Stunden herum. Er hatte versucht, sich immer nach oben zu orientieren, war aber keineswegs sicher, dass die geschwungenen Brücken, abfallenden Korridore und merkwürdig konstruierten Treppen ihn nicht doch noch weiter ins Erdinnere geführt hatten, so viele Stufen er sich auch aufwärts bewegt hatte. Dabei war die Flamme seiner Fackel immer schwächer geworden, bis nur noch ein dünner, blaugelber Faden übriggeblieben war, den jeder verirrte kleine Windhauch ausblasen konnte. Fast war er schon selbst davon überzeugt, dass er für immer hier unten bleiben müsste, in der Finsternis verhungern und sterben würde. Und dann hatte er das hier gefunden … dieses Wunder.
    Es war nicht das Essen allein, obwohl ihm beim bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammenlief und die Finger zuckten. Nein, weit wichtiger war, dass Menschen in der Nähe sein mussten, und mit ihnen vielleicht Licht und frische Luft. Sogar die Wände, grobgemauerte menschliche Arbeit, deuteten darauf hin, dass die Oberfläche nah war. Er war so gut wie gerettet!
    Moment. Er hatte die Hand schon ausgestreckt und berührte beinah die Schale des Apfels. Jäh hielt er inne. Und wenn es eine Falle ist? Wenn sie wissen, dass hier jemand ist, und ihn herauslocken wollen?
    Aber wer konnten »sie« sein? Niemand außer seinen Freunden, außer den viehischen Gräbern und den Schattengeistern der Sithi in ihrer Traumburg konnte wissen, wo er steckte. Nein, jemand musste eine Mahlzeit hier heruntergebracht und sie aus irgendeinem unbekannten Grund vergessen haben.
    Wenn sie überhaupt wirklich vorhanden war.
    Simon griff danach und war darauf gefasst, dass das Essen verschwinden oder sich in Staub verwandeln würde – doch nein. Seine Hand schloss sich um den Apfel. Er war hart unter seinen Fingern. Simon riss ihn an sich, beschnüffelte ihn kurz – wie roch eigentlich Gift? – und biss hinein.
    Danke, barmherziger Usires, o danke.
    Es war … köstlich. Die Frucht war noch längst nicht reif, der Saft scharf, sauer, aber Simon war, als hielte er die lebendige, grüne Erde in der Hand, als knirsche die süßeste Frucht von Sonne, Wind und Regen zwischen seinen Zähnen, während der Saft ihm durch die Kehle hinabrann. Für einen Augenblick vergaß er alles andere und genoss die Herrlichkeit.
    Er nahm den Deckel von der Schüssel, roch, ob sie auch wirklich Wasser enthielt, und trank sie in durstigen Zügen aus. Als sie leer war, schnappte er sich das Essen vom Teller und rannte zurück in den Gang, um sich ein Versteck zu suchen, in dem er in Ruhe und Sicherheit speisen könnte.
     
    Simon musste sich beherrschen, damit er den Apfel langsam aß, obwohl ihm jeder einzelne Bissen ein Jahr seines Lebens wiederzuschenken schien. Als er fertig war und sich den letzten Tropfen Saftvon den Fingern geleckt hatte, betrachtete er sehnsüchtig das Brot und die Zwiebel. Schließlich bezwang er sich und steckte beides in die Hosentaschen. Selbst wenn er den Weg

Weitere Kostenlose Bücher