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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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vor sich hin. Im Schlaf wirkte seine schlaffe Gesichtshaut noch formloser und hing in tiefen Falten herunter, sodass es aussah, als trüge er eine Maske aus geschmolzenem Kerzenwachs. Miriamel schauderte und eilte zu ihrer Bank zurück, aber auch dort begann sie sich schon bald schutzlos zu fühlen. Noch immer war das Kirchenschiff voll schweigender Gestalten, von denen man sich leicht vorstellen konnte, dass sie gar nicht wirklich schliefen und nur darauf warteten, sich zu erheben und langsam auf sie zuzugehen.Miriamel wartete. Die Zeit wurde ihr sehr lang. Der Vorraum, in den sie sich zurückgezogen hatte, war noch kälter als die eigentliche Kirche mit ihrer zerstörten Kuppel, aber zumindest war der Fluchtweg kürzer. Durch die ein Stück offen stehende Tür wehte der Nachtwind herein und gab Miriamel das Gefühl, dem freien Himmel näher und dadurch sehr viel sicherer zu sein. Dennoch fuhr sie zusammen, als die Türangeln plötzlich quietschten.
    »Ah«, sagte Binabik und schlüpfte hinein, »noch immer regnet es mit ansehnlicher Kräftigkeit.« Er schüttelte sich. Wasser tropfte auf den Steinboden.
    »Bischof Domitis ist hinter dem Altar eingeschlafen. Wo warst du?«
    »Dein Pferd habe ich zurückgeführt an die Stelle, wo Heimfinder und Qantaqa harren. Selbst wenn wir hier, was wir suchen, nicht finden, können wir doch zu Fuß leicht durch die Stadt wandern. Aber wenn wir auf eine Tunnelzugänglichkeit stoßen, fürchte ich, dass wir, wenn wir später zurückkehren, dein Pferd als Fleisch in der Suppe eines Hungrigen entdecken.«
    Miriamel hatte daran nicht gedacht, zweifelte aber nicht daran, dass er recht hatte. »Ich danke dir, Binabik. Wie wollen wir weiter vorgehen?«
    »Auf die Jagd nach unserem Tunnel schreiten.«
    »Als Bischof Domitis von den Katakomben sprach, hat er immer nach der Rückseite des Doms geschaut, auf die Wand hinter dem Altar.«
    »Hmmm.« Der Troll nickte. »Weise bist du, zu bemerken und dich zu erinnern. Dort werden wir zuerst forschen.«
    »Wir müssen leise sein, um ihn nicht aufzuwecken.«
    »Wie Schneemäuse werden wir huschen, mit wispernden Pfoten.« Er drückte ihre Hand.
    Ihre Sorgen über den schlummernden Domitis waren unbegründet. Der alte Mann schnarchte schwächlich, aber tapfer vor sich hin und zuckte nicht einmal, als sie vorbeischlichen. Die große Wand hinter dem Altar war einmal mit Kacheln verkleidet gewesen, auf denen das Martyrium des heiligen Sebastian dargestellt war. Jetzt gab es dort nur noch bröckelnden Mörtel mit ein paar Überrestender alten Keramikverkleidung. An der einen Seite der Wand lag versteckt hinter einem verrottenden Samtvorhang eine niedrige Tür. Binabik zog daran, und sie öffnete sich so leicht, als würde recht oft von ihr Gebrauch gemacht. Er spähte hinein und drehte sich zu Miriamel um. »Wir sollten ein paar Kerzen mitnehmen. So können wir die Fackeln in unserem Gepäck für später aufheben.«
    Miriamel ging zurück und holte aus den Leuchtern zwei Kerzen. Sie schämte sich ein wenig, denn Domitis war auf seine wunderliche Weise freundlich zu ihnen gewesen, aber sie fand, dass ihre gute Absicht die Sünde des Diebstahls aufwog und am Ende dem Bischof selbst zum Vorteil gereichen konnte – vielleicht würde er ja noch den Wiederaufbau seines geliebten Doms erleben. Sie fragte sich unwillkürlich, ob die Raben dann auch noch willkommen sein würden. Sie hoffte nicht.
    Kerzen in der Hand, stiegen Miriamel und Binabik vorsichtig die schmale Treppe hinunter. Jahrhunderte menschlicher Schritte hatten in der Mitte der Steinstufen eine Rinne ausgehöhlt, die wie ein trockenes Flussbett aussah. Dann traten sie von der Treppe in die niedrigen Katakomben und sahen sich um. Auf beiden Seiten waren die Mauern von Nischen durchsetzt. In jeder Nische ruhte das schweigende, steinerne Abbild einer liegenden Gestalt, von denen die meisten Gewänder und andere Symbole kirchlicher Würden trugen. Ansonsten waren die schmalen Korridore vollständig leer.
    Binabik deutete auf einen Quergang, der kaum Fußspuren aufwies. »Hier entlang, würde ich denken.«
    Miriamel blickte in den düsteren Tunnel. Die hellen Gipswände waren unversehrt, kein Heiliger schien hier zu schlummern. Sie tat einen tiefen Atemzug. »Gehen wir.«
     
    Oben im Dom schwebte ein Rabenpaar von der Decke herunter, kreiste kurz und landete auf dem Altar. Dort blieben sie Seite an Seite stehen, die funkelnden Augen auf die Tür zu den Katakomben gerichtet. Sie waren nicht die

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