Der Engelsturm
heraushängenden Zungen und wachsamen dunklen Augen starrten sie auf die Ankömmlinge; gleich darauf machte das Rudel kehrt und floh die überschwemmte Gasse hinunter.
»Was ist hier bloß geschehen?«, murmelte Miriamel.
»Ich denke, man kann es erraten«, antwortete Binabik. »Du hast andere Städte und Dörfer gesehen, nicht weit von hier, und ich habe überall in den verschneiten Ländern des Nordens die gleiche Leere erlebt. Und dieser Ort liegt dem Hochhorst am allernächsten.«
»Aber wo sind die ganzen Leute hingegangen? Aus Stanshire, aus dem Hasutal, aus … aus Erchester? Sie können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.«
»Nein. Manche sind gestorben, als die Ernten nicht mehr kamen, und andere, nehme ich an, werden nach Süden gezogen sein. Dieses Jahr ist selbst für uns, die wir etwas mehr über die Ereignisse wissen, schrecklich gewesen. Für die, die hier wohnten, muss es den Anschein gehabt haben, als liege plötzlich ein Fluch auf ihnen.« »O barmherzige Elysia!« Zorn und Mitleid klangen aus ihrer Stimme. »Vater, was hast du getan!«
Binabik zuckte die Achseln.
Als sie in die breite Mittelgasse einritten, stießen sie endlich auf Anzeichen menschlichen Lebens: Aus den Spalten einiger Fensterläden flackerte Feuerschein, und irgendwo weiter oben in der Straße knallte eine Tür zu. Miriamel glaubte sogar eine Stimme zu hören, die ein Gebet sprach, konnte sich aber nicht recht vorstellen,welcher Mensch solch rauhe Töne herausbrachte – eher schien es, als habe ein wandernder Geist seinen klagenden Ruf zurückgelassen.
Sie bogen gerade um eine Ecke, als aus einer der schmalen Querstraßen vor ihnen plötzlich eine Gestalt im zerlumpten Mantel auftauchte, die langsam und unbeholfen die Straße hinauftrottete. Miriamel war so überrascht, jemanden zu sehen, dass sie ihr Pferd zügelte und dem sich Entfernenden hinterherstarrte. Als spüre sie ihren Blick, drehte die Gestalt sich um. Das faltige Gesicht unter der Kapuze – schwer zu sagen, ob es einem Mann oder einer Frau gehörte – war angstverzerrt. Der Mantelträger setzte sich hastig in Trab und verschwand in einem Gässchen. Als Miriamel und Binabik die Stelle erreichten, war niemand zu sehen, und alle Türen, die auf den schmalen Durchgang hinausführten, erweckten den Anschein, schon lange vernagelt zu sein.
»Wer immer das war, er hatte Angst vor uns!« Miriamel konnte die schmerzliche Verblüffung in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Kannst du ihnen daraus einen Vorwurf bereiten?« Der kleine Mann deutete mit der Hand auf die gespenstischen Straßen. »Doch es ist ohne Belang. Ich zweifle nicht, dass hier viel Grässliches vorgefallen ist – aber nicht unsere Aufgabe ist es, uns über diese Dinge Sorgen zu machen. Wir sind auf der Suche.«
»Natürlich«, erwiderte Miriamel rasch, doch sie hatte kaum zugehört. Es war schwer, die Augen von den schlammbespritzten Mauern, den düsteren, leeren Straßen loszureißen, die aussahen, als sei eine ungeheure Flutwelle durch sie hindurchgebraust und hätte alle Einwohner mit sich fortgerissen. »Natürlich«, wiederholte sie. »Aber wo fangen wir an?«
»Auf der Karte sah es so aus, als liege das Tunnelende im Mittelpunkt der Stadt. Ist das unsere Richtung?«
»Ja. Die Mittelgasse führt quer durch die ganze Stadt bis hinauf zum Nerulagh-Tor.«
»Was ist dann jenes Gewaltige?« Er zeigte mit dem Finger.
»Es scheint unser Vorwärtskommen zu verhindern.« Ein paar Achtelmeilen vor ihnen verdunkelte ein riesiger Bau die Straße.
»Das?« Miriamel war immer noch so verstört, dass sie eine Weilebrauchte, um sich zurechtzufinden. »Oh. Das ist die Rückseite von Sankt Sutrin – dem Dom.«
Binabik schwieg einen Moment und fragte dann: »Liegt er im Mittelpunkt der Stadt?«
»Mehr oder weniger.« Ein Unterton in der Stimme des Trolls lenkte ihre Aufmerksamkeit endlich von der albtraumhaften Leere der Mittelgasse ab. »Binabik? Was ist? Stimmt etwas nicht?«
»Komm, wir wollen ihn uns von näherer Größe ansehen. Warum hat er keine goldene Mauer? Nach dem, was Reisende mir erzählt haben, dachte ich, dass eine solche Mauer zu den Berühmtheiten von Sankt Sutrin gehört.«
»Sie ist auf der anderen Seite, zur Burg hin.«
Sie blieben auf der Mittelgasse. Miriamel fragte sich immer wieder, ob es hier nicht doch noch Menschen gab – ob die Stadt in Wirklichkeit gar nicht verlassen, sondern vollständig bevölkert war. Wenn alle Einwohner so verängstigt waren wie der, dem sie
Weitere Kostenlose Bücher