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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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hatte nicht ihnen gegolten. Aus den düsteren Ruinen der Kuppel stürzte schwirrend und flatternd ein Schwarm schwarzer Vögel in die Tiefe. Miriamel quiekte vor Schreck leise auf, als die Raben sich auf dem Altar niederließen. Binnen Sekunden drängten sich fast zwanzig von ihnen, Schwinge an Schwinge, auf dem Altartuch. Ihr öliges Gefieder glänzte im Kerzenlicht.
    Der alte Mann begann die Mansa Nictalis zu sprechen, und die Raben putzten und plusterten sich und hörten ihm zu.
    »Was ist das?«, fragte Binabik. »Nie habe ich von einem solchen Bestandteil eurer Anbetung gehört.«
    Miriamel schüttelte den Kopf. Der alte Mann musste verrückt sein. Er richtete die Nabbanai-Worte an die Raben, die auf demAltar hin und her stolzierten und rauhe, heisere Schreie ausstießen. Und da war noch etwas an diesem Schauspiel, das fast ebenso seltsam war wie die unheimliche Zeremonie selbst, etwas, das sich nicht recht fassen ließ …
    Als der alte Mann von neuem die Arme hob und das rituelle Zeichen des Großen Baumes beschrieb, erkannte sie ihn plötzlich. Der Mann dort am Altar war Bischof Domitis – oder das, was von ihm übriggeblieben war, denn er schien auf die Hälfte seines einstigen Gewichts geschrumpft zu sein. Sogar seine Stimme hatte sich verändert. Ohne den großen Blasebalg aus Fleisch klang sie dünn und schrill. Doch während er jetzt die volltönenden Sätze der Mansa intonierte, schien viel von dem alten Domitis zurückzukehren. In ihrem müden Kopf sah sie ihn so, wie er einmal gewesen war, vor lauter Wichtigkeit aufgebläht wie ein Ochsenfrosch.
    »Binabik«, zischte sie, »ich kenne ihn! Er war der Bischof hier. Aber er sieht jetzt ganz anders aus.«
    Der Troll betrachtete mit einer Mischung aus Belustigung und Unbehagen die hüpfenden Raben. »Könnte es dir gelingen, ihn zur Hilfe für uns zu überreden?«
    Miriamel dachte nach. »Ich fürchte, nein. Er scheint seine Kirche unbedingt beschützen zu wollen und entschieden etwas dagegen zu haben, dass wir in seinen Katakomben herumlaufen.«
    »Dann bin ich sicher, dass es genau dieser Ort ist, den wir aufsuchen müssen«, antwortete Binabik leise. »Wir müssen nur eine Gelegenheit dazu abwarten.« Er blickte zu Domitis auf, der mit zurückgeworfenem Kopf und geschlossenen Augen dastand und die Arme ausgebreitet hatte, als wolle er seine gefiederte Gemeinde nachahmen. »Ich muss jetzt noch etwas erledigen. Warte hier auf mich. Nur geringe Zeit wird nötig sein.« Lautlos stand er von der Bank auf und glitt durch den Mittelgang rasch auf die Vorderseite des Doms zu.
    »Binabik!«, rief Miriamel ihm ganz leise nach, aber der Troll hob nur kurz die Hand und verschwand im Vorraum. Unwillig und beunruhigt drehte Miriamel sich wieder um und beobachtete den Rest der sonderbaren Vorstellung am Altar.
    Domitis schien vollständig vergessen zu haben, dass es außer ihmund den Raben noch andere Anwesende gab. Ein paar der Vögel hatten sich ihm auf die Schultern gesetzt. Dort krallten sie sich fest, als er schwankte, und als er im Eifer seiner Rede mit den Armen zu fuchteln begann, schlugen sie mit den großen, schwarzen Flügeln, verloren jedoch nicht den Halt.
    Als der Bischof endlich zum letzten Teil der Mansa kam, stieg der ganze Vogelschwarm auf und kreiste wie eine krächzende Gewitterwolke um seinen Kopf. Was immer an diesem ganzen Ritual komisch gewirkt haben mochte, es war vorbei; Miriamel fand das Schauspiel plötzlich furchterregend. Gab es denn keinen Winkel auf dieser Welt mehr, in dem nicht der Wahnsinn herrschte? Hatte sich wirklich alles ins Böse verkehrt?
    Domitis intonierte die letzten Nabbanai-Sätze und verstummte. Die Raben umkreisten ihn noch einige Male und brausten dann wie ein Wirbelwind hinauf in die geborstene Kuppel, wo sie in den Schatten verschwanden. Nur der Nachhall ihrer rauhen Schreie hing noch immer in der Luft. Als auch er erstorben und der Dom wieder still war, bückte sich Bischof Domitis, jetzt fast grau von der großen Anstrengung, hinter den Altar.
    Einige Zeit verging. Als er nicht wieder auftauchte, begann Miriamel zu fürchten, er könne einen Anfall gehabt haben oder gar tot umgefallen sein. Sie stand auf und näherte sich vorsichtig dem Altar, ein Auge an die Decke gerichtet, weil sie sich ein wenig davor fürchtete, dass die Raben auf einmal wieder herabstoßen könnten, ein Sturm von Krallen und spitzen Schnäbeln …
    Domitis lag zusammengerollt auf einer zerfetzten Decke hinter dem Altar und schnarchte sacht

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