Der Engelsturm
begegnet waren, würden sie sie jetzt lautlos durch ihre Fensterläden oder durch Risse in den Mauern beobachten – eine ebenso schlimme Vorstellung wie die, dass in Erchester niemand mehr lebte, vielleicht sogar noch seltsamer. Zu beiden Seiten der Straße standen die leeren Buden, in denen früher die vielen kleinen Händler ihre Läden gehabt hatten. Es war, als warteten diese leeren Höhlen auf neues Leben – ein Leben, das dem der Bauern, Handwerker und Städter, die hier geschäftig umhergelaufen waren, so wenig glich, wie Schlamm trockener, sonnenbeschienener Erde gleicht.
Plünderer hatten Sankt Sutrins goldene Fassade abgeschält; sogar die weithin berühmten Steinreliefs waren bis zur Unkenntlichkeit entstellt, als hätte man das Gold, das sie bedeckte, in einer einzigen hastigen Stunde mit Hämmern heruntergeschlagen.
»Es war wunderschön.« Miriamel konnte keine große Trauer oder Überraschung mehr empfinden. »Wenn die Sonne darauf schien, sah es aus, als stünde die Kirche in heiligen Flammen.«
»In Zeiten von Schlechtigkeit ist Gold mehr wert als Schönheit«, sann Binabik und spähte zu den zerstörten Gesichtern der Heiligen empor. »Wir wollen die Tür versuchen.«
»Glaubst du, er ist dort? Der Tunnel?«
»Auf der Karte hast du gesehen, dass er in der Mitte dieser Stadt Erchester nach oben kam. Es ist in meinem Kopf, dass diese Kirche tiefer reicht als alles andere hier.«
Die großen Holztüren ließen sich nur schwer öffnen, aber Miriamel und Binabik stemmten die Schultern dagegen, bis die Angeln knarrten und die Tür scharrend fast eine Elle breit aufschwang, sodass sie hindurchschlüpfen konnten.
Auch der Vorraum war fast von allem Schmuck entblößt. Die Sockel zu beiden Seiten der Tür standen leer, und die riesenhaften Wandteppiche, die die Mauern einst in Fenster verwandelt hatten, durch die man in die Zeiten Usires Ädons zurückblicken konnte, lagen zerdrückt auf dem Steinboden, bedeckt mit schlammigen Fußspuren. Der Raum stank nach Feuchtigkeit und Verfall, als habe ihn seit langem niemand mehr betreten, aber in dem großen Kirchenschiff hinter den Türen des Vorraums brannte Licht.
»Jemand ist dort«, sagte Miriamel.
»Oder zumindest kommt noch jemand, um die Kerzen anzuzünden«, meinte Binabik.
Sie waren nur wenige Schritte gegangen, als in der inneren Tür eine Gestalt auftauchte.
»Wer seid ihr? Was sucht ihr im Hause Gottes?«
Miriamel hatte es vor lauter Überraschung, eine andere menschliche Stimme zu hören, zunächst die Rede verschlagen. Als jedoch Binabik vortrat, legte sie ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Wir sind Reisende und wollten Sankt Sutrin besichtigen. Früher waren die Türen nie verschlossen.«
»Seid ihr Ädoniter?«
Die Stimme hatte etwas vage Vertrautes. »Ich bin Ädoniterin. Mein Begleiter stammt aus einem fernen Land, aber er hat der Mutter Kirche schon große Dienste erwiesen.«
Der Mann zögerte einen Augenblick, bevor er weitersprach.
»So tretet ein, wenn ihr schwört, dass ihr keine Feinde seid.«
Dem zittrigen Ton seiner Stimme nach bezweifelte Miriamel, dass er sie aufhalten könnte, wenn sie tatsächlich feindliche Absichten hegten, aber sie antwortete: »Wir sind keine Feinde. Seid bedankt.«
Die undeutliche Gestalt verschwand vom Eingang. Miriamel und Binabik folgten. Sie waren noch immer vorsichtig. In dieser Geisterstadt konnte jeder im Dom hausen und wie eine Spinne, die in ihrem Netz lauert, unvorsichtige Reisende in die Falle locken.
Drinnen war es nicht viel wärmer als draußen und die riesige Kirche war voll dunkler Schatten. Nur ein Dutzend Kerzen erleuchtete das gewaltige Schiff, und ihr Licht reichte nicht einmal bis in die hohen Deckengewölbe. Irgendwie kam Miriamel auch die Kuppel verändert vor. Sie sah genauer hin und merkte, dass das ganze Glas verschwunden war. Nur noch ein paar Splitter hingen an den Bleirahmen. Am nackten Himmel glomm ein einsamer Stern.
»Vom Sturm zerschlagen«, sagte jemand neben ihr. Erschrocken zuckte sie zusammen. »Alle unsere schönen Fenster – das Werk von Jahrhunderten – zerbrochen. Über die Menschheit wird Gericht gehalten.«
Neben ihr stand im matten Licht ein alter Mann im schmutziggrauen Gewand, im schlaffen Gesicht tausend Runzeln. Auf seinem fast kahlen Kopf mit den spärlichen weißen Haarsträhnen saß ein sonderbar geformter, schiefer Hut. »Du siehst so traurig aus«, murmelte er; an seiner Aussprache erkannte man den Erkynländer. »Hast du
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