Der Engelsturm
der König vor Spionen oder vor einer Belagerung? Oder dienten die Sperren nicht dazu, Eindringlinge abzuschrecken, sondern sollten verhindern, dass die in der Burg Lebenden sie verließen? Er atmete ruhig und dachte nach. Es gab Fenster im Hochhorst, die nicht zu verschließen waren, und andere geheime Eingänge, das wusste er, aber sollte er sich auf diese Wagnisse einlassen? Vielleicht waren zwar nachts weniger Leute unterwegs, aber den verriegelten Türen nach zu schließen, würden die, die nicht schliefen, umso schärfer auf unerwartete Geräusche achten.
Er ging zur Küche zurück. Im Hof davor stand ein kleiner, verdorrter Apfelbaum, an dessen Ästen er sich hinaufzog. Von dort aus kletterte er auf den Sims des hohen Fensters. Das dicke Glas war zerbrochen, die Fensternische jedoch mit Steinen verstopft, die er nicht ohne lautes Scheppern entfernen konnte. Lautlos fluchend stieg er wieder hinunter.
Alle Glieder taten ihm weh, und er hatte immer noch schrecklichen Hunger, trotz der üppigen Mahlzeit aus einer ganzen Zwiebel. Er kam zu dem Schluss, dass er mit den Türen des Inneren Zwingers nur seine Zeit vergeudete. Vielleicht war der Mittlere Zwinger auf der anderen Seite des Burggrabens weniger gut gesichert.
Zwischen den beiden Zwingern lagen mehrere unangenehm offene Flächen. Obwohl Simon bisher weder eine Wache noch überhaupt jemanden zu Gesicht bekommen hatte, kostete es ihn erhebliche Überwindung, das freie Gelände, von Schatten zu Schatten huschend, zu überqueren. Am schlimmsten war die Brücke über den Graben. Zweimal setzte er den Fuß darauf und schreckte wieder zurück. Sie war mindestens dreißig Ellen lang, und falls jemand kam, während er mitten darauf war, würde man ihn so wenig übersehen können wie eine Fliege auf der weißen Wand.
Endlich atmete er zögernd aus, dann tief und keuchend wieder ein und rannte los. Seine Schritte dröhnten ihm in den Ohren wie Donner. Er zwang sich, langsamer zu laufen und trotz seines Herzklopfens ganz sacht aufzutreten. Als er die andere Seite erreicht hatte, huschte er sofort in den nächsten Schuppen und blieb dort so lange sitzen, bis seine Knie aufgehört hatten zu zittern.
Du hast es doch geschafft, beruhigte er sich selbst. Niemand ist hier. Kein Grund zur Furcht.
Aber er wusste, dass das nicht wahr war.
Es gab einige gute Gründe, Angst zu haben. Aber bisher hat dich niemand erwischt. Jedenfalls schon seit einer ganzen Weile nicht mehr.
Als er aufstand, wunderte er sich, warum die Brücke über den Burggraben überhaupt heruntergelassen war, wenn man gleichzeitig alle Türen verschloss und die Fenster verrammelte, als fürchte man einen Überfall.
Und warum stand dann der Engelsturm offen?
Ihm fiel keine Antwort ein.
Er hatte noch keine hundert Schritte auf der aufgeweichten Straße, die durch den Mittleren zum Äußeren Zwinger führte, zurückgelegt, als er etwas sah, das ihn veranlasste, sich sofort wieder ins Dunkel zu ducken. Alle seine Ängste waren auf einmal wieder da, und dieses Mal mit vollem Recht.
Im Zwinger lagerte ein ganzes Heer.
Er hatte es deshalb so spät gemerkt, weil nur wenige Feuer brannten und die Zelte aus dunklem Tuch waren, das in der Nacht fast unsichtbar blieb. Aber der ganze Zwinger schien voller Bewaffneter zu sein. Gleich vorn schritt ein gutes halbes Dutzend auf und ab,offenbar Wachtposten, die Mäntel, Helme und lange Spieße trugen. Von ihren Gesichtern konnte er nicht viel erkennen, dazu war es zu dunkel. Doch während er noch so dastand, versteckt in einer Lücke zwischen zwei Gebäuden, und überlegte, was er jetzt tun sollte, näherten sich zwei weitere Gestalten in Kapuzenmänteln. Auch sie trugen lange Speere, aber er begriff sofort, dass sie von anderer Art waren. Etwas an ihrer Haltung, dem geschmeidigen, schnellen Gang, verriet ihm, dass es sich um Nornen handelte.
Zitternd drückte sich Simon tiefer in die schützende Schwärze. Würden sie ihn bemerken. Konnten sie … ihn riechen?
Noch während er sich das fragte, blieben die Wesen in den schwarzen Gewändern nur ein kurzes Stück von seinem Versteck entfernt stehen, witternd wie Jagdhunde. Simon hielt den Atem an und zwang sich zu vollständiger Reglosigkeit. Nach langem Warten drehten die Nornen sich plötzlich gleichzeitig um, als hätten sie eine wortlose Übereinkunft getroffen, und setzten ihren Weg fort. Simon harrte zitternd eine weitere Minute aus und steckte dann vorsichtig den Kopf um die Ecke. Er konnte die beiden in der
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