Der Engelsturm
er in einem Raum stand, den er bestens kannte. Erst etwas an der Form und Anordnung der Fenster, vielleicht auch eine winzige Einzelheit auf einem der verschossenen Wandteppiche, weckten schließlich seine Erinnerung.
Der Engelsturm. Wie in einem Traum verwandelte sich die Umgebung, das Vertraute wurde fremd, das Fremde vertraut. Ich bin in der Eingangshalle. Der Engelsturm!
Dieser überraschenden Erkenntnis folgte eine weit unerfreulichere Einsicht.
Ich bin auf dem Hochhorst! In der Burg des Hochkönigs. Bei Elias und seinen Soldaten. Und Pryrates.
Er sprang in den Schatten der Wand zurück, als könnte jeden Augenblick die Erkynwache zur Tür hereinstürmen, um ihn gefangen zu nehmen. Was sollte er nur tun?
Es war verlockend, sich vorzustellen, er würde die breite Treppe zur Glockenstube emporsteigen, der Zuflucht seiner Kindheit. Von dort könnte er jeden Winkel des Hochhorsts überschauen. Oder sich ausruhen und überlegen, wie er vorgehen wollte. Aber sein geschwollener Knöchel tat grausam weh, und beim Gedanken an die vielen Stufen wurde ihm übel. Zuerst würde er die aufgesparte Zwiebel essen, entschied er. Dieses kleine Fest hatte er sich verdient. Danach würde er weitere Entschlüsse fassen.
Er schlich zurück in die Abstellkammer, fand dann aber, dassselbst dieser Ort möglicherweise ein wenig zu belebt war. Vielleicht täuschte ja der ausgestorbene Eindruck der Eingangshalle. Vorsorglich kletterte er die Leiter in den darunterliegenden Lagerraum hinunter, wobei er leise über seine schmerzenden Arme und den Knöchel stöhnte, holte dann die Zwiebel aus der Tasche und verschlang sie gierig. Er quetschte sich das letzte Wasser in den Hals – was immer sonst geschehen mochte, alle Dachrinnen der Burg liefen über von Wasser, und der Regen tropfte an den Fenstern vorbei, sodass er trinken konnte, soviel er wollte – und legte sich dann hin, den Kopf auf einem der Säcke, um seine Gedanken zu ordnen.
Sofort schlief er ein.
»Wir lügen, wenn wir Angst haben«, erklärte Morgenes. Der alte Doktor nahm einen Stein aus der Tasche und warf ihn in den Burggraben. Ein Aufblitzen von Sonnenlicht auf den kleinen Wellen, dann ging der Stein unter. »Angst vor dem, was wir nicht wissen, vor dem, was andere denken, vor dem, was man über uns herausfindet. Aber jedes Mal, wenn wir lügen, wird das, wovor wir Angst haben, stärker.«
Simon blickte sich um. Hinter der Westmauer der Burg verschwand die Sonne, der Engelsturm war wie ein schwarzer Dorn, der in den Himmel stach. Er wusste, dass er träumte. Morgenes hatte diese Worte vor langer Zeit gesagt, aber sie hatten dabei in der Wohnung des Doktors vor einem staubigen Folianten gestanden, nicht draußen im dämmernden Nachmittag. Außerdem war Morgenes tot. Es war ein Traum, nicht mehr. »Eigentlich ist es eine Art Magie – vielleicht die stärkste überhaupt«, fuhr Morgenes fort. »Das musst du begreifen, wenn du verstehen willst, was Macht bedeutet, Simon, mein Junge. Stopf dir nicht den Kopf voll mit Geplapper von Zaubersprüchen und Beschwörungen. Lerne erkennen, wie die Lügen uns formen, wie sie ganze Königreiche formen.«
»Aber das ist keine Magie«, protestierte Simon, wider Willen zur Gegenrede verlockt. »Es bewirkt nichts. Echte Magie kann … ich weiß nicht. Machen, dass man fliegt. Einen Haufen Rüben in Goldsäcke verwandeln. Wie im Märchen.«
»Aber die Märchen sind oft erlogen, Simon, jedenfalls die schlechten.« Der Doktor putzte sich mit dem weiten Ärmel seines Gewandes die Brille. »Gute Märchen sagen dir, dass es nichts Furchterregenderes gibt, als sich derLüge zu stellen. Und es gibt weder einen Talisman noch ein Zauberschwert, die nur halb so mächtige Waffen wären wie die Wahrheit.«
Simon betrachtete die kleinen Wellen, die langsam zerflossen. Es war wundervoll, wieder hier zu stehen und mit Morgenes zu reden, selbst wenn es nur ein Traum war.
»Meint Ihr, wenn ich zu einem großen Drachen wie dem, den König Johan getötet hat, sage: ›Du bist ein scheußlicher Drache‹, wäre das besser, als ihm mit dem Schwert den Kopf abzuschlagen?«
Morgenes Stimme wurde schwächer. »Wenn du so getan hättest, als wäre er kein Drache, dann ja, dann wäre es das Beste. Aber das ist nicht alles, Simon. Du musst noch tiefer gehen.«
»Tiefer?« Simon drehte sich zornig zu ihm um. »Ich war im Inneren der Erde, Doktor. Ich habe es überlebt und bin wieder ans Licht gekommen. Was wollt Ihr noch?«
Morgenes … verwandelte
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