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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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sich. Seine Haut war auf einmal papierdünn, das fahle Haar voller Blätter. Vor Simons Augen wurden die Finger des alten Mannes länger, wuchsen zu schmalen Ästen, verzweigten sich wieder und wieder. »Ja, du hast dazugelernt«, sagte der Doktor. Noch während er sprach, begannen seine Züge mit den Unebenheiten der weißen Baumrinde zu verschmelzen. »Aber du musst noch tiefer hinunter. Es gibt noch vieles, das du verstehen musst. Schau nach dem Engel – er wird dir etwas zeigen, unter der Erde und hoch in den Lüften.«
    »Morgenes!« Simons ganzer Zorn war verraucht. Sein Freund veränderte sich so rasch, dass er kaum noch Ähnlichkeit mit einem Menschen besaß, lediglich in der Gestalt des Stammes lag noch eine leichte Andeutung seines früheren Wesens, im unnatürlichen Beben der Äste. »Verlass mich nicht!«
    »Aber ich habe dich schon verlassen«, murmelte die Stimme des Doktors. »Was du noch von mir hast, steckt allein in deinem Kopf – ich bin ein Teil von dir. Der Rest ist wieder zu Erde geworden.« Der Baum schwankte sacht. »Aber vergiss nicht – Sonne und Sterne scheinen auf die Blätter, doch die Wurzeln wachsen tief in der Erde, verborgen … verborgen …«
    Simon umklammerte den bleichen Stamm, und seine Finger huschten hilflos über die steife Rinde. Die Stimme des Doktors war verstummt.
     
    Er setzte sich auf. In seinen Augen brannte Alptraumschweiß. Voller Entsetzen stellte er fest, dass es dunkel war.
    Es war alles nur ein Traum! Ich bin immer noch in den Tunneln verirrt … verirrt …
    Gleich darauf sah er im hochgelegenen Fenster des Lagerraums Sterne blinken.
    Mondkalb. Du bist eingeschlafen, und draußen ist es Nacht.
    Er rieb sich die schmerzenden Glieder. Was nun? Er war hungrig und durstig und die Wahrscheinlichkeit, dass er hier im Engelsturm etwas zu essen finden würde, gering. Andererseits hatte er wenig Lust, diesen verhältnismäßig sicheren Schlupfwinkel zu verlassen.
    Aber bin ich denn aus den Tiefen der Erde gestiegen, um dann in einer Abstellkammer zu verhungern? , schalt er sich. Welcher Ritter würde so etwas tun?
    Er stand auf und streckte sich. In seinem Knöchel fühlte er dumpfen Schmerz. Vielleicht würde er nur einen kleinen Streifzug unternehmen – Wasser holen und sich ein bisschen umschauen. Das tat man jedenfalls am besten, solange es noch dunkel war.
     
    Simon stand unsicher im Schatten des Engelsturms. Das vertraute Gewirr der Dächer des Inneren Zwingers ragte vor ihm in den Nachthimmel, aber Simon fühlte sich trotzdem äußerst unwohl. Es lag nicht allein daran, dass er als Geächteter in die Heimat seiner Kindheit zurückgekommen war. Da war auch etwas Unheimliches in der Luft. Er konnte es nicht benennen, spürte es aber ganz deutlich. Die schillernde Unstetigkeit der unterirdischen Welt, die ihn an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte, schien auf irgendeine Art bis in die oberen Gemäuer der Burg hinaufgesickert zu sein. Wenn er den Kopf schiefhielt, konnte er fast sehen, wie in seinem Augenwinkel die Gebäude waberten und sich veränderten. An den Kanten der Mauern flackerten schwache Lichtflecken wie geisterhafte Flammen und verschwanden gleich wieder.
    Nun auch der Hochhorst? War denn die ganze Welt aus den Fugen geraten? Was ging hier vor?
    Nicht ohne Mühe nahm er seinen Mut zusammen und ging auf Erkundung.
    Obwohl die große Burg menschenleer wirkte, fand Simon schon bald heraus, dass dieser Eindruck täuschte. Der Innere Zwinger warzwar dunkel und still, aber in den Gängen und hinter geschlossenen Türen wurde geflüstert, und in vielen der oberen Fenster brannte Licht. Er hörte Fetzen fremdartiger Melodien und noch fremdartigere Stimmen, bei deren Klang er am liebsten einen Katzenbuckel gemacht und gezischt hätte. Er stand versteckt im tiefen Schatten des Heckengartens und kam zu dem Schluss, dass dem Hochhorst etwas Verdorbenes anhaftete wie einer Frucht, die man zu lange am Baum gelassen hat und die unter ihrer Schale weich und faulig geworden ist. Er konnte nicht genau erklären, woran es lag, aber der ganze Innere Zwinger, einst Mittelpunkt von Simons kindlicher Welt, schien vom Mehltau befallen.
    Verstohlen schlich er zur Küche, zur kleineren Spülküche, zur Kapelle – sogar, mit dem Mut der Verzweiflung, zum Vorzimmer des Thronsaals, das zum Garten hinausging. Aber alle Türen nach außen waren versperrt. Nirgends fand er einen Eingang. Simon konnte sich nicht erinnern, dass es jemals früher so gewesen war. Fürchtete sich

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