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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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unterdrücken, und reckte sich. Zitternd schob er sich Zoll für Zoll höher. Einen kurzen Augenblick stemmte er sich gegen die Wand des Lochs, dann ging es weiter. Jetzt hoben sich seine Augen über den Rand, seine Nase, sein Kinn. Sobald es ging, streckte er den Arm hinaus und klammerte sich am Boden fest, presste den Rücken gegen die Ziegel und holte den zweiten Arm nach. Er benutzte die Ellenbogen als Hebel und arbeitete sich so allmählich aus der Spalte heraus, ohne auf die Abschürfungen zu achten, die der Stein auf Rücken und Flanken hinterließ. Schließlich rutschte er auf der Brust vorwärts, strampelnd wie ein Schwimmer, bis sein ganzer Körper auf den feuchten Steinen lag.
    So blieb er lange liegen, rang nach Luft und versuchte, nicht daran zu denken, wie sehr Arme und Schultern schmerzten. Endlich rollte er sich auf den Rücken und schaute nach oben.
    Über ihm erstreckte sich eine weitere Steindecke, ein wenig höher als die vorhergehende. Tränen rannen ihm über die Wangen.
    War das nur eine neue Spielart seines Leidensweges? Würde er sich durch ein Loch nach dem andern zwängen müssen, endlos, ewig? War das die Hölle?
    Er zog das feuchte Hemd aus der Hose und quetschte es aus, um ein paar Tropfen in den Mund zu bekommen. Dann setzte er sich hin und sah sich um.
    Seine Augen wurden groß; das Herz wollte ihm in der Brust schwellen. Alles hatte sich verändert.
    Die Kammer, in der er saß, war offensichtlich ein Lagerraum. Sie war von Menschenhand erbaut und voll von Gerätschaften, dieMenschen gehörten, allerdings den Eindruck erweckten, schon lange nicht mehr benutzt worden zu sein. In einer Ecke lag ein Wagenrad, dem zwei Speichen fehlten. An einer anderen Wand standen mehrere Fässer, neben denen prall gefüllte Säcke aufgeschichtet waren. Einen Augenblick konnte Simon nur daran denken, dass sie vielleicht Lebensmittel enthielten. Dann bemerkte er an der gegenüberliegenden Wand eine Leiter und begriff, woher das Licht kam.
    Der obere Teil der Leiter verschwand in einer offenen Falltür in der Decke, einem leuchtenden Viereck. Simon starrte es mit aufgerissenem Mund an. Offenbar hatte doch jemand seine verzweifelten Gebete gehört und ihm diese Leiter hingestellt.
    Er rappelte sich auf, durchquerte langsam den Raum, hielt sich an den Sprossen der Leiter fest und schaute nach oben ins Helle. Das Licht wirkte wie klares Tageslicht. War das überhaupt möglich – nach so langer Zeit?
    Der darüberliegende Raum war ebenfalls ein Lagerraum. Auch er hatte eine Falltür und eine Leiter, aber oben in der Mauer saß ein schmales Fenster, durch das Simon den grauen Himmel sehen konnte.
    Den Himmel!
    Er hatte geglaubt, keine Tränen mehr zu haben, aber als er das Rechteck aus Wolken anstarrte, begann er zu weinen, das erleichterte Schluchzen eines Kindes, das sich verlaufen hat und endlich seine Eltern findet. Er sank in die Knie und stammelte ein Dankgebet. Die Welt war ihm wiedergeschenkt worden. Nein, das stimmte nicht: Er selbst hatte sie wiedergefunden.
    Nachdem er sich ein paar Minuten ausgeruht hatte, kletterte er die Leiter empor. Über der Falltür fand er eine kleine Kammer voller Maurerwerkzeug und kleiner Krüge mit Farbe und weißer Tünche. Hier gab es eine gewöhnliche Tür und die üblichen, grobverputzten Wände. Simon war entzückt. Alles war so wunderbar alltäglich! Behutsam öffnete er die Tür. Ihm war plötzlich klargeworden, dass er sich an einem bewohnten Ort befand und dass er, sosehr er sich auch danach sehnte, ein anderes Gesicht zu sehen und Stimmen zu hören, die nicht aus leerem Schatten klangen, äußerst vorsichtig sein musste.
    Hinter der Tür lag ein großer Raum mit poliertem Steinfußboden, nur von schmalen, hohen Fenstern erhellt. Schwere Teppiche bedeckten die Wände. Zur Rechten schwang sich eine breite Treppe nach oben und außer Sicht. Auf der anderen Seite gab es eine kleinere Stiege, die zu einem Absatz mit einer geschlossenen Tür führte. Simon spähte und lauschte nach allen Seiten, aber außer ihm schien niemand da zu sein. Er trat heraus.
    Trotz der zahlreichen Reinigungsgeräte in den verschiedenen Lagerräumen machte der Raum einen vernachlässigten Eindruck. Auf den Wandteppichen wuchsen bleiche Schimmelflecken, und in der stickigen Luft hing ein feuchter, abgestandener Geruch.
    Sein Erstaunen darüber, wieder Tageslicht zu sehen, der Rausch seiner gelungenen Flucht aus der Tiefe waren so stark, dass Simon erst nach einer ganzen Weile merkte, dass

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