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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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verraten zu dürfen.
    Simon konnte ein Zittern nicht unterdrücken. Er kam sich vor wie ein gequälter Hund an der Leine. Das Ungeheuer war so nah!
    Der Reitertrupp hielt an. Der Priester beschimpfte einen der Männer. Seine schnarrende Stimme war nicht laut, aber unverkennbar. Simon beugte sich vor, soweit es ging, ohne dass er den Schatten der Mauer verließ. Er hielt die hohle Hand ans Ohr, um besser zu hören.
    »… oder ich reite auf dir!« , fauchte der Priester.
    Der Soldat antwortete mit gedämpfter Stimme. Trotz seiner Größe und des Schwertes an seiner Hüfte zog er den Kopf ein wie ein verängstigtes Kind. Niemand wagte es, Pryrates herauszufordern. Das war schon vor Simons Flucht aus der Burg so gewesen.
    »Bist du verrückt oder nur ein Schwachkopf?« Pryrates wurdelauter. »Ich kann nicht tagelang auf einem lahmen Gaul sitzen, nicht den ganzen Weg bis nach Wentmünd. Gib mir dein Tier.«
    Der Soldat stieg ab und reichte dem Alchimisten die Zügel seines Pferdes. Er murmelte etwas. Pryrates lachte. »Dann kannst du mein Ross führen. Es wird dir nichts schaden, wenn du läufst. Schließlich liegt es an deiner Dummheit, dass …« Der Rest seiner spöttischen Bemerkung war so leise, dass Simon ihn nicht verstehen konnte, aber er glaubte noch einmal etwas von Wentmünd zu hören, der felsigen Höhe im Süden, wo der Fluss Gleniwent ins Meer floss. Pryrates schwang sich in den Sattel des Wachsoldaten, und unter seinem dunklen Mantel flammte das scharlachrote Gewand auf wie eine blutige Wunde. Dann trieb er das Pferd von der Brücke und in den Morast des Mittleren Zwingers. Der Rest der Truppe folgte ihm, und der Soldat, der Pryrates’ Pferd führte, lief zu Fuß hinterher.
    Als sie an seinem Versteck vorüberkamen, merkte Simon, dass er einen Stein umklammert hielt. Er konnte sich nicht einmal erinnern, ihn aufgehoben zu haben. Er starrte auf den Kopf des Alchimisten, der so rund und glatt war wie eine Eierschale, und dachte daran, mit welcher Wonne er ihn zerschmettert sehen würde. Dieses boshafte Geschöpf hatte Morgenes – und Gott allein wusste wie viele andere – auf dem Gewissen. Simon, dessen ganze Furcht auf geheimnisvolle Weise verflogen schien, kämpfte gegen den schier unüberwindlichen Drang an, seine Wut herauszubrüllen und anzugreifen. Wie konnten gute Menschen wie der Doktor, Geloë und Deornoth sterben, während ein solches Scheusal am Leben blieb! Pryrates umzubringen war seinen eigenen Tod wert. Die Welt würde von etwas unvorstellbar Widerwärtigem befreit sein. Tun, was nötig ist, hätte Rachel es genannt. Eine schmutzige Arbeit, aber nötig.
    Er sah zu, wie die Reiter vorbeizogen. Sie umgingen die Zelte und verschwanden in Richtung des Untertors, das zum Äußeren Zwinger führte. Simon ließ den Stein, den er noch immer festhielt, in den Schlamm fallen und stand zitternd da.
    Unvermittelt kam ihm ein Gedanke, ein so wilder, verrückter Einfall, dass er selbst erschrocken war. Er sah zum Himmel auf, um abzuschätzen, wie viel Zeit ihm noch bis zum Anbruch der Dämmerungblieb. Die Luft fühlte sich so kalt und leer an, dass er überzeugt war, die Sonne würde frühestens in einigen Stunden aufgehen.
    Wer kam als Erster dafür in Frage, Hellnagel aus dem Grab entwendet zu haben? Natürlich Pryrates. Vielleicht, wenn es ihm vorteilhaft erschien, hatte er König Elias nicht einmal davon erzählt. Und wenn es so war, wo würde er das Schwert aufbewahren? Ganz sicher würde er es in seiner ganz persönlichen Festung verstecken: dem Hjeldinturm.
    Simon drehte sich um. Hässlich und massig neben der klar geschwungenen Linie des Engelsturms ragte der Turm des Alchimisten über der Mauer des Inneren Zwingers auf. Wenn Licht darin brannte, so war es nicht zu sehen. Die blutroten Fenster standen dunkel. Das Bauwerk wirkte verlassen, aber das traf auf den gesamten inneren Ring der gewaltigen Anlage zu. Das ganze Herzstück des Hochhorsts hätte ein Mausoleum sein können, eine Totenstadt.
    Sollte er es wagen, in den Turm einzudringen – es zumindest versuchen? Er würde Licht brauchen. Vielleicht fand er im Engelsturm irgendwo noch ein paar Ersatzfackeln oder eine Blendlaterne, die er benutzen konnte. Es war ein furchtbares, entsetzliches Wagnis …
    Wenn er nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie Pryrates davonritt, und den roten Priester nicht von einer Reise nach Wentmünd hätte reden hören, wäre Simon nie auf einen solchen Gedanken gekommen. Bei der bloßen Vorstellung, sich in

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