Der Engelsturm
Dunkelheit zwar nicht mehr erkennen, sah aber, wie die menschlichen Soldaten vor ihnen zurückwichen, hastig, wie man einer Schlange ausweicht. Einen Augenblick hoben sich die Umrisse der Nornen noch einmal vor einem der Wachtfeuer ab, verhüllte Zwillingsgestalten, die die Menschen um sie herum gar nicht zu bemerken schienen. Dann glitten sie aus dem Lichtkreis des Feuers und waren verschwunden.
Das hatte Simon nicht erwartet. Nornen! Die Weißfüchse hier auf dem Hochhorst! Offenbar stand es noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Aber hatten nicht Geloë und die anderen gesagt, die Unsterblichen könnten nicht hierher zurückkehren? Vielleicht hatten sie damit nur Ineluki selbst und seine Diener gemeint. Aber selbst wenn es so war, schien es im Augenblick ein schwacher Trost.
Der Mittlere Zwinger war also voller Soldaten, und die Nornen liefen überall in der Feste ungehindert herum, lautlos wie Eulen auf der Jagd. Simon bekam eine Gänsehaut. Er zweifelte nicht daran, dass auch der Äußere Zwinger von Schwarzen Rimmersmännern,Thrithingsöldnern und anderen Halsabschneidern wimmelte, Männern, die Elias mit dem Gold Erkynlands und der Hexerei des Sturmkönigs bestochen hatte. Erstaunlich nur, dass es so viele Männer der Erkynwache an diesem spukhaften Ort in Gesellschaft der leichenhaften Nornen aushielten. Die Unsterblichen waren so furchterregend anders , und er hatte sehen können, dass die Soldaten im Inneren Zwinger Angst vor den Nornen hatten.
Jetzt habe ich noch einen weiteren Grund zur Flucht als nur die Rettung meiner eigenen Haut. Josua und die anderen müssen unbedingt erfahren, was hier vorgeht.
Für kurze Zeit keimte Hoffnung in ihm auf.
Wenn er hört, dass die Nornen hier bei Elias sind, kommt vielleicht auch Jiriki mit den Sithi. Müsste Jirikis Volk den Menschen dann nicht helfen?
Er versuchte scharf nachzudenken.
Eigentlich sollte ich sogar am besten gleich fliehen – wenn es geht. Würde es irgendjemandem helfen, wenn ich hierbliebe?
Aber er hatte noch kaum etwas herausgefunden. Und dabei war er genau das, was für jeden Heerführer den größten Wert hatte: ein scharfes Auge mitten im feindlichen Lager. Simon kannte den Hochhorst wie ein Bauer seine Felder, ein Schmied seinen Hammer. Er schuldete es dem Glück, das ihn bis jetzt am Leben erhalten hatte – jawohl, dem Glück, ermahnte er sich selbst, aber Verstand und Tüchtigkeit hatten auch dazu beigetragen –, so viel wie möglich aus seiner Lage herauszuholen.
Also gut. Zurück in den Inneren Zwinger. Notfalls konnte er ein paar Tage ohne Essen auskommen, weil es reichlich Wasser gab. Das war genug Zeit, um herumzuspionieren und sich dann einen Weg zu suchen, der ihn an den Soldaten vorbei in die Freiheit brachte. Wenn es sein musste, konnte er sogar wieder unter die Burg und durch die dunklen Tunnel entkommen. Dort würde er auf jeden Fall unentdeckt bleiben.
Nein. Nicht die Tunnel.
Sinnlos, sich etwas vorzumachen. Selbst für Josua und die anderen konnte er es nicht tun.
Er näherte sich gerade der Brücke zum Inneren Zwinger, als ihn lautes Klappern veranlasste, sich eilig wieder in die Schatten zurückzuziehen.Eine Gruppe Berittener bewegte sich auf die Brücke zu, und Simon dankte Usires wortlos dafür, dass er ihn nicht einen Augenblick früher dorthin gebracht hatte.
Der Trupp schien aus Gepanzerten der Erkynwache zu bestehen, die trotz ihres kriegerischen Staates einen sonderbar mutlosen Eindruck machten. Simon fragte sich, was sie wohl vorhatten. In diesem Augenblick erkannte er in ihrer Mitte einen vertrauten Kahlkopf. Ihm wurde eiskalt.
Pryrates! Die Augen traten ihm aus dem Kopf, und er presste sich an die Mauer. Würgender Hass stieg in ihm auf. Da war das Ungeheuer, keine sechzig Schritte entfernt, die haarlosen Züge umflossen von mattem Mondlicht.
In einer Sekunde könnte ich bei ihm sein, dachte Simon wild. Wenn ich langsam näher käme, würden die Soldaten sich gar nicht um mich kümmern – sie würden mich für einen von den Söldnern halten, der zu viel Wein getrunken hat. Ich könnte ihm mit einem großen Stein den Schädel einschlagen.
Aber wenn es misslang? Dann würde man ihn mühelos ergreifen. Jeder Nutzen, den er vielleicht für Josua haben konnte, wäre dahin. Schlimmer noch, er würde Gefangener des roten Priesters sein. Dann würde es genauso werden, wie Binabik gesagt hatte: Binnen kurzem würde er den Alchimisten anbetteln, ihm alle Geheimnisse über Josua, die Sithi und die Schwerter
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