Der Engelsturm
den berüchtigten Turm einzuschleichen, wenn der haarlose, schwarzäugige Pryrates dort hockte und auf Beute lauerte wie eine Spinne im Netz, drehte sich Simons Magen um. Aber der Priester, daran bestand kein Zweifel, war fort, und Simon wusste, dass sich diese Möglichkeit vielleicht nie wieder bieten würde. Und wenn er Hellnagel fand? Er konnte es an sich nehmen und den Hochhorst verlassen, ehe Pryrates zurückkam. Wäre es nicht großartig, in Prinz Josuas Lager einzureiten und allen Hellnagel zu zeigen, blitzend in der Sonne? Dann würde er wirklich Simon sein, der Herr der Großen Schwerter …
Während er rasch und leise die Brücke überquerte, fiel sein Blick auf die vor ihm liegende Zwingermauer. Etwas an ihr war … anders. Sie war heller geworden.
Die Sonne ging auf, jedenfalls soweit sie es an diesem grauen Tag tun würde. Simon beschleunigte seinen Schritt. Er hatte sich geirrt.
Noch ein paar Stunden, wie? Du hast Glück gehabt. Was wäre, wenn du jetzt an den Türen des Hjeldinturms herumrütteln würdest, und plötzlich ginge die Sonne auf? Mondkalb, nach wie vor Mondkalb.
Trotzdem bereute er nichts. Ritter und Helden mussten kühn sein, und was ihm im Kopf herumging, war zweifellos ein kühner Plan. Er würde lediglich die Dunkelheit der nächsten Nacht abwarten müssen, um ihn auszuführen. Es würde eine wundervolle, heldenhafte Tat sein.
Doch schon während er seinem Versteck im Engelsturm zueilte, wünschte er sich, seine Freunde wären bei ihm, um ihm die Sache auszureden.
Die Sonne war vor ein paar Stunden untergegangen. Vom Nachthimmel fiel ein feiner Nieselregen. Simon stand in der Tür des Engelsturms und bereitete sich zum Abmarsch vor.
Es fiel ihm nicht leicht. Noch immer fühlte er sich matt und hungrig, obwohl er den ganzen Tag geschlafen und danach die Reste eines Abendessens gefunden hatte – eine Brotkruste und eine magere Käserinde auf einem Teller, der in einer Nische im Vorraum des Turms gestanden hatte. Brot und Käse waren trocken, schienen aber trotzdem nur Stunden und nicht Tage oder Wochen alt zu sein. Er verschlang sie und fragte sich, für wen sie wohl bestimmt gewesen waren. Ob sich der Küster Barnabas auch jetzt noch um den Turm und die großen Glocken kümmerte? Falls ja, versah er seinen Dienst allerdings schlecht.
Beim Gedanken an Barnabas fiel Simon auf, dass er in der ganzen Zeit nach seiner Rückkehr kein einziges Mal die Glocken gehört hatte. Als er jetzt in der Tür des Turms stand und darauf wartete, dass es richtig dunkel wurde, musste er erneut daran denken. Der weithin hallende, dröhnende Ruf der Bronzeglocken war der Herzschlag des Hochhorsts gewesen, so wie er ihn gekannt hatte, eine stündliche Mahnung, dass nichts so blieb, wie es war, dass die Zeit verrann, das Leben weiterging. Jetzt aber schwiegen sie.
Achselzuckend machte er sich auf den Weg. Er hielt die hohlenHände unter einen Bach aus Regenwasser, der vom Dach herunterströmte, und trank durstig. Nachdem er sich die Finger an der Hose abgewischt hatte, warf er einen Blick auf die Silhouette des Hjeldinturms vor dem violetten Himmel. Alle Vorbereitungen waren getroffen. Es gab keinen Grund, noch länger zu warten.
Er schlich um den äußeren Rand des Zwingers herum, wobei er sich im Schutz der Gebäude hielt, um allen zufälligen Blicken zu entgehen. Gestern Abend war er Pryrates und den Soldaten fast in die Arme gelaufen. Auch wenn die Festung scheinbar verlassen war, würde er es diesmal nicht darauf ankommen lassen. Ab und zu wehten Gesprächsfetzen an ihm vorüber, aber er sah keine lebende Seele, von der sie stammen konnten. Ein langgezogenes, schluchzendes Lachen schwebte vorbei. Simon überlief es kalt.
Als er um die Ecke eines der Nebengebäude bog, glaubte er plötzlich, in den oberen Fenstern des Turms ein Licht flackern zu sehen, das kurz und rot aufglomm wie eine Kohle, die noch schwelendes Leben barg. Er blieb stehen und fluchte leise. Wie konnte er so sicher sein, dass der Turm leer stand, nur weil Pryrates nicht anwesend war? Vielleicht wohnten dort die Nornen?
Vielleicht aber auch nicht. Sicher brauchte sogar der Priester Bedienstete, die den Boden fegten und die Lampen anzündeten, wie Simon es einst für Doktor Morgenes getan hatte. Wenn jemand im Turm herumlief, war es wahrscheinlich irgendein verschüchterter Burgbewohner, den man zur Arbeit in der Höhle des roten Priesters gezwungen hatte. Vielleicht war es ja Rachel der Drache! Dann würde Simon nicht nur
Weitere Kostenlose Bücher