Der Engelsturm
Gebrechlichkeit nach. Sie wusste, dass in einer besseren, nicht derart mit Sünde behafteten Welt jene, die auf dem Pfad der Gerechtigkeit wandelten, keine solchen Schmerzen und Qualen erleiden mussten. Aber in dieser Welt waren alle Seelen zunächst verdächtig, und Mühsal und Pein, so hatte Rachel der Drache es auf dem Schoß ihrer Mutter gelernt, waren die Prüfungen, denen Gott sie unterzog. Ganz sicher würden die Lasten, unter denen sie jetzt stöhnte, sie dereinst am Tag der Entscheidung auf der Großen Waage um vieles leichter machen.
Jedenfalls hoffe ich das, Ädon Erlöser, dachte sie bitter. Wenn meine irdische Bürde nämlich nur noch ein bisschen schwerer wird, werde ich am Tag des Abwägens in die Lüfte schweben wie Löwenzahnsamen. Sie grinste spöttisch über ihre eigene Respektlosigkeit. Rachel, du alte Närrin, hör dir nur zu. Du kannst deine Seele immer noch gefährden, auch jetzt noch!
Der Gedanke hatte etwas merkwürdig Tröstliches. Gestärkt nahm sie von neuem die Stufen in Angriff.
Sie hatte die Nische schon längst hinter sich gelassen, als ihr der Teller einfiel. Sicher würde er noch genauso aussehen wie heute Morgen, als sie auf ihrem Weg nach unten einen Blick darauf geworfenhatte … aber dennoch war es falsch, sich jetzt zu drücken. Rachel, Oberste der Kammerfrauen, würde sich niemals drücken. Obwohl ihr die Füße wehtaten und ihr Knie protestierte und sie nur den einen Wunsch hatte, in ihr Kämmerchen zurückzukehren und sich hinzulegen, zwang sie sich, umzukehren und die Stufen wieder hinunterzusteigen.
Der Teller war leer.
Rachel starrte ihn lange an. Erst nach und nach begriff sie, was diese Leere bedeutete. Guthwulf war zurückgekommen.
Zu ihrem eigenen Erstaunen presste sie den Teller an sich und weinte. Alte Tapergreisin, schalt sie sich dabei. Warum in Gottes Namen heulst du? Weil ein Mann, der nie ein Wort mit dir gesprochen hat, da war und ein bisschen Brot und eine Zwiebel von deinem Teller genommen hat?
Doch noch während sie sich so ausschimpfte, fühlte sie die Löwenzahnsamen-Leichtigkeit, die sie sich vorhin nur vorgestellt hatte. Er war nicht tot! Sofern die Soldaten ihn suchten, hatten sie ihn jedenfalls noch nicht gefunden – und er war wiedergekommen. Fast war es, als hätte Graf Guthwulf gewusst, wie sehr sie sich Sorgen machte. Sie wusste, dass das ein unsinniger Gedanke war, aber trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas sehr Wichtiges vorgefallen war.
Als sie sich erholt hatte, wischte sie mit dem Ärmel entschlossen die Tränen ab, holte Käse und Dörrobst aus ihrem Beutel und füllte den Teller neu. Sie prüfte die zugedeckte Schüssel. Auch sie war leer. Aus ihrem eigenen Wasserschlauch goss sie Wasser hinein. In den Tunneln war es trocken und staubig, gewiss würde der arme Mann bald wieder Durst haben.
Nach dieser beglückenden Arbeit setzte Rachel ihren Aufstieg fort, aber die Treppen kamen ihr nicht mehr so steil vor. Sie hatte Guthwulf nicht gefunden, aber er lebte. Er wusste, wohin er gehen musste, und würde sich wieder einstellen. Vielleicht würde er das nächste Mal ein Weilchen bleiben und ihr erlauben, mit ihm zu sprechen.
Aber was sollte sie sagen?
Ganz gleich, irgendetwas. Jemand, mit dem man reden kann. Jemand zum Reden.
Wortlos sang sie ein frommes Lied und schlich zurück in ihre verborgene Kammer.
Simons Kräfte schienen erschöpft. Als die beiden Nornen ihn über den Hof des Inneren Zwingers schleiften, gaben plötzlich seine Knie nach. Die beiden Unsterblichen zögerten keinen Moment, sondern hoben ihn bei den Armen hoch, bis nur noch die Zehen den Boden berührten.
Mit ihrem Schweigen und den starren Gesichtern hätten sie Statuen aus weißem Marmor sein können, durch Zauber beweglich geworden. Nur ihre schwarzen Augen, die über den düsteren Hof huschten, schienen lebenden Wesen zu gehören. Als einer von ihnen in der zischenden, klickenden Mundart von Sturmspitze etwas sagte, kam es so überraschend, als hätten die Burgmauern gelacht.
Was immer das Ungeheuer sagte, sein Gefährte schien zuzustimmen. Sie vollführten eine kleine Schwenkung und trugen ihren Gefährten auf den großen inneren Burgbereich zu, in dem die Hauptgebäude des Hochhorsts lagen.
Simon fragte sich benommen, wohin sie ihn brachten. Sehr wichtig war es ihm nicht. Er hatte als Spion nicht gerade viel geleistet – zuerst war er in die Klauen des Königs geraten, dann diesen beiden Scheusälern mitten in die Arme gelaufen – und
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