Der Engelsturm
nun würde er für seine Unvorsichtigkeit büßen müssen.
Aber was werden sie tun? Müdigkeit kämpfte gegen Furcht. Ich werde ihnen nichts erzählen. Ich werde meine Freunde nicht verraten. Niemals!
Aber selbst in seinem betäubten Zustand wusste Simon, dass er, sobald Pryrates wieder hier war, höchstwahrscheinlich nicht schweigen würde. Binabik hatte recht. Er hatte sich benommen wie ein elender, verfluchter Narr.
Notfalls werde ich einen Weg finden, mich umzubringen.
Wirklich? Das Buch Ädon nannte es eine Sünde, und er hatte Angst vor dem Sterben, Angst davor, aus eigener Entscheidung die dunkle Reise anzutreten. Zudem waren die Aussichten gering, dass sich ihm überhaupt ein solcher Ausweg bieten würde. Die Nornenhatten ihm sein Qanuc-Knochenmesser abgenommen und sahen im Übrigen so aus, als könnten sie ihn mühelos an jedem Selbstmordversuch hindern.
Aus der Dunkelheit tauchten die Mauern der inneren Burg auf, bedeckt mit in Stein gehauenen Fabeltieren und kaum weniger fabelhaften Heiligen. Die Tür stand halb offen, dahinter lag tiefer Schatten. Simon wehrte sich kurz, wurde aber von unnachgiebigen Fingern so fest gehalten, dass er es aufgab. Verzweifelt reckte er den Hals, um einen letzten Blick auf den Himmel zu erhaschen.
In der trüben nördlichen Nacht stand zwischen Pryrates’ Festung und dem Hochhorst ein flimmernder roter Lichtfleck – ein zorniger, blutroter Stern.
Die schlechtbeleuchteten Korridore wollten kein Ende nehmen. Der Hochhorst hatte schon immer als das größte Gebäude aller Zeiten gegolten, aber jetzt erst stellte Simon mit dumpfer Überraschung fest, wie riesig die Burg wirklich war. Fast hatte es den Anschein, als führten hinter jeder Tür auf einmal neue Gänge ins Weite. Obwohl die Nacht draußen windstill gewesen war, wehte in den Korridoren ständig ein kalter Luftzug, und obwohl Simon nur manchmal an den äußersten Enden der Gänge ein paar dahinhuschende Gestalten bemerkte, herrschte Leben in den Schatten, und er hörte Stimmen und eigentümliche Töne.
Die Nornen, die ihn immer noch fest gepackt hielten, schleppten ihn durch eine Tür, hinter der eine steile, enge Treppe lag. Nach einem langen Abstieg, bei dem er so eng zwischen den beiden Unsterblichen eingekeilt war, dass er zu fühlen glaubte, wie ihre kalte Haut seinem Körper die Wärme entzog, gelangten sie erneut in einen leeren Korridor und bogen von dort rasch zu einer weiteren Treppe ab.
Sie bringen mich nach unten in die Tunnel, dachte Simon verzweifelt. Zurück in die Tunnel. O Gott, hinab in die Finsternis!
Endlich blieben sie vor einer gewaltigen, eisenbeschlagenen Eichentür stehen. Einer der Nornen zog einen großen, plumpen Schlüssel aus dem Gewand und schob ihn ins Schloss. Mit einer schnellen Drehung des weißen Handgelenks zog er die Tür nachaußen. Ein Schwall heißer, rauchiger Luft wogte ihnen entgegen und biss in Simons Nase und Augen.
Unsicher verharrte Simon auf der Schwelle und wartete, was nun geschehen würde. Schließlich blickte er auf. Die flachen, ausdruckslosen Augen der Nornen waren auf ihn gerichtet. War das hier seine Gefängniszelle? Oder der Ort, an den sie die Leichen ihrer Opfer warfen?
Irgendwie fand er die Kraft zum Sprechen. »Wenn ihr wollt, dass ich da hineingehe, könnt ihr euch ruhig anstrengen.« Er straffte die Muskeln, um Widerstand zu leisten.
Einer der Nornen gab ihm einen Stoß. Simon griff nach der Tür, schwankte einen Augenblick auf der Schwelle, verlor das Gleichgewicht und stürzte ins Leere.
Es gab keinen Fußboden.
Gleich darauf merkte er, dass es doch einen gab, nur dass er mehrere Ellen unterhalb der Türschwelle lag. Er prallte auf einen Fußboden aus geborstenen Steinen und taumelte mit einem Schmerzensschrei vornüber. Keuchend blieb er liegen und starrte an die unerwartet hohe Decke, an der Licht und Schatten eines Feuers spielten. Die Luft war von merkwürdigen, zischenden Geräuschen erfüllt. Über ihm knarrte das Schloss, als der Schlüssel umgedreht wurde.
Simon wälzte sich auf die andere Seite und sah, dass er nicht allein war. Ganz in der Nähe hielten sich ein halbes Dutzend sonderbar gekleidete Männer auf, die ihn anglotzten – wenn es Männer waren. Ihre Gesichter waren fast völlig mit schmutzigen Lumpen umwunden. Sie machten keine Anstalten, auf ihn zuzukommen. Wenn es Folterknechte waren, dachte Simon, hatten sie ihre Arbeit offenbar satt.
Hinter den Männern erstreckte sich eine große Höhle, deren Ausstattung
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