Der Engelsturm
grimmig.
»Hör auf.« Er wusste, dass es seine eigene Stimme war, aber sie klang unwirklich. »Lass ihn in Ruhe.«
Inch drehte ihm langsam das breite, narbige Gesicht zu. Sein einziges Auge blinzelte aus dem versengten Fleisch. »Du schweigst«, knurrte er und gab Stanhelm einen achtlosen Tritt.
»Ich habe gesagt, lass ihn in Ruhe.«
Inch wandte sich von seinem Opfer ab, und Simon wich einen Schritt zurück und sah sich nach einem Fluchtweg um. Nun gab es kein Zurück mehr. Er konnte die Auseinandersetzung nicht länger vermeiden. In ihm kämpften Entsetzen und lange zurückgehaltene Wut. Sehnsüchtig dachte er an sein Qanucmesser, das ihm die Nornen abgenommen hatten.
»Komm her.«
Simon trat noch einen Schritt zurück. »Komm doch und hol mich, Fettsack.«
Inchs zerstörtes Gesicht verzog sich zu einer Grimasse der Wut. Er holte aus. Mit einem Satz war Simon außer Reichweite, machte kehrt und rannte in die Höhle hinaus. Staunend sahen die anderen Schmiedeknechte zu, wie ihr Meister schwerfällig hinter ihm herlief.
Simon hatte gehofft, er könnte den Riesen ermüden, dabei aber nicht an seine eigene Erschöpfung und die Wochen voller Wunden und Entbehrungen gedacht. Schon nach den ersten hundert Schritten merkte er, wie seine Kräfte nachließen, obwohl Inch immer noch in einigem Abstand hinter ihm herstampfte. Es gab kein Versteck und keinen Fluchtweg. Es war besser, sich zu stellen und dort zu kämpfen, wo ein freier Platz war und er jeden Geschwindigkeitsvorteil, der ihm noch blieb, ausnutzen konnte.
Er bückte sich und hob einen großen Steinbrocken auf. Inch, überzeugt, dass Simon ihm nicht entkommen würde, aber vorsichtig wegen des Steins, kam langsam, aber stetig näher.
»Doktor Inch ist Meister hier«, brummte er. »Es gibt viel Arbeit. Du … du hast …« Er knurrte, weil er für die Ungeheuerlichkeit von Simons Verbrechen keine Worte fand. Wieder tat er einen Schritt auf ihn zu.
Simon schleuderte ihm den Stein an den Kopf. Inch duckte sich zur Seite, sodass der Stein mit voller Wucht seine Schulter traf. Simon merkte, wie eine finstere Heiterkeit in ihm aufzusteigen begann, eine wachsende Wut, die ihn durchbrauste wie eine unbändigeFreude. Das war das Vieh, das Pryrates in Morgenes’ Wohnung geführt hatte! Dieses Scheusal war an der Ermordung von Simons Meister beteiligt gewesen!
»Doktor Inch!«, schrie Simon wild auflachend und bückte sich nach einem neuen Stein. »Doktor! Der einzige Titel, der dir zusteht, ist Faulpelz oder Schwachkopf! Doktor! Ha!« Er warf den zweiten Stein, aber Inch wich aus, und der Stein polterte über den Höhlenboden. Mit überraschender Behendigkeit sprang der große Mann vor und versetzte Simon einen seitlichen Hieb, der ihn fast umwarf. Bevor er das Gleichgewicht wiederfand, schloss sich eine breite Hand um seinen Arm. Er wurde hochgerissen und mit dem Kopf voran den Steinboden entlanggeschleudert. Simon taumelte, stieß sich den Schädel und blieb einen Augenblick betäubt liegen. Wieder packte ihn Inchs fleischige Hand. Er wurde hochgehoben, dann fuhr ihm ein so harter Schlag ins Gesicht, dass er Donner hörte und Blitze sah. Seine Stoffmaske wurde heruntergerissen.
Ein neuer Hieb ließ ihn wanken, dann wurde er losgelassen und fiel der Länge nach hin. Wo er gefallen war, blieb er liegen und versuchte, sich darüber klarzuwerden, wo er war und was überhaupt vorgefallen war.
»Du machst mich zornig«, verkündete eine tiefe Stimme. Simon wartete hilflos auf den nächsten Schlag und hoffte nur, er würde stark genug sein, ihn für immer von den Kopfschmerzen und der Übelkeit zu befreien. Aber lange Augenblicke geschah gar nichts.
»Der kleine Küchenjunge«, sagte Inch endlich. »Ich erkenne dich. Du bist der Küchenjunge. Aber du hast Haare im Gesicht!« Es gab ein Geräusch wie zwei aneinandergeriebene Steine. Simon begriff erst nach einiger Zeit, dass Inch lachte. »Du bist wieder da!« Er klang so vergnügt, als wäre Simon ein alter Freund. »Wieder bei Inch – aber ich bin jetzt Doktor Inch. Du hast mich ausgelacht. Jetzt wirst du nicht mehr lachen.«
Dicke Finger rissen ihn vom Boden hoch. Von der jähen Bewegung wurde es ihm schwarz vor Augen.
Simon zappelte, konnte sich aber nicht befreien. Etwas hielt ihn mit gespreizten und bis zum Äußersten gestreckten Armen und Beinen fest.
Er schlug die Augen auf und blickte in Inchs zerfetztes Mondgesicht. »Kleiner Küchenjunge. Du bist wieder da.« Der Riese beugte sich näher. Mit einer
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