Der Engelsturm
hätte Haestan nicht sterben müssen, wenn sie früher von dort aufgebrochen wären? Er war mit Miriamel gegangen, um sie unterwegs zu beschützen, und hatte dafür leiden müssen, zuerst in den Tunneln und jetzt auf diesem Rad, auf dem er wahrscheinlich sterben würde. Sie hatten ihm alles weggenommen, was er je besessen hatte. Sie hatten ihn missbraucht.
Überhaupt Miriamel – sie hatte noch andere Verbrechen auf dem Gewissen. Sie hatte ihn an sich gelockt, ihn wie ihresgleichen behandelt, obwohl sie doch eine Königstochter war. Sie war seine Freundin gewesen oder hatte zumindest so getan, aber als er von seiner Suche in den Bergen des Nordens zurückkam, hatte sie nicht auf ihn gewartet. Nein, sie war auf eigene Faust losgezogen, ohne ihm auch nur eine Nachricht zu hinterlassen, so als hätte es ihre Freundschaft nie gegeben. Und sie hatte sich einem anderen Mann hingegeben – sich von jemandem entjungfern lassen, den sie nicht einmal gern hatte! Sie hatte Simon geküsst und ihn glauben lassen, dass seine hoffnungslose Liebe nicht einseitig war … aber dann hatte sie ihm ihre Missetaten ins Gesicht geschleudert, so grausam es nur ging.
Sogar seine Eltern hatten ihn im Stich gelassen, waren gestorben, bevor er sie auch nur kennenlernen konnte, hatten ihn ohne Familie und Geschichte zurückgelassen, angewiesen auf das, was die Kammerfrauen ihm geben konnten. Wie hatten sie das über sich gebracht? Warum hatte Gott es zugelassen? Aber der hatte ihn auch verraten, denn Gott war einfach nicht da gewesen. Angeblich sollte er über alle Geschöpfe dieser Welt wachen, aber offenbar hielt er nicht viel von Simon, dem geringsten seiner Kinder. Wie konnte Gott jemanden lieben und ihn dann leiden lassen, nur weil er versucht hatte, das Rechte zu tun?
Doch bei all seiner Wut auf die sogenannten Freunde, die sein Vertrauen so schnöde missbraucht hatten, empfand er doch weit größeren Hass auf seine Feinde: Inch, von viehischer Rohheit – nein, schlimmer als ein Vieh, denn Tiere folterten nicht; König Elias, der die Welt in den Krieg gestürzt und die Erde mit einem Pesthauch von Entsetzen, Hungersnot und Tod überzogen hatte; Utuk’ku mit der Silbermaske, die ihren Jäger auf Simon und seine Freunde gehetzt und die weise Amerasu getötet hatte; der Priester Pryrates, Morgenes’ Mörder, in dessen schwarzer Seele nichts anderes schlummerte als selbstsüchtige Bosheit.
Aber die größte Schuld an Simons Qualen trug doch er, dessen gieriger Hass so groß war, dass nicht einmal das Grab ihn halten konnte. Wenn es jemand verdiente, dass man ihm Leid mit Leid vergalt, dann war es der Sturmkönig, Ineluki, der Verderben über eine Welt voller Unschuldiger gebracht hatte. Er hatte Simons Leben und Glück zerstört.
Manchmal dachte Simon, dass es nur sein Hass war, der ihn am Leben erhielt. Wenn die Schmerzen zu schrecklich waren, wenn ihm das Leben zu entgleiten begann oder er zumindest keinen Einfluss darauf hatte, war der Trieb, zu überleben und sich zu rächen, etwas, an das er sich klammern konnte. Ja, er wollte so lange am Leben bleiben, wie es nur ging, und sei es auch nur, um alle, die ihn gepeinigt hatten, einen kleinen Teil seines eigenen Leides spüren zu lassen. Jede unglückliche, einsame Nacht würde vergolten werden, jede Wunde, jede Angst, jede Träne.
So kreiste er durch die Dunkelheit, manchmal bei Sinnen, manchmal nicht, und schwor tausend Eide, Schmerz mit Schmerzen heimzuzahlen.
Anfangs hielt er es für ein Glühwürmchen, das am Rande seines Gesichtsfelds schwebte, etwas Kleines, das ohne Licht leuchtete, ein nichtschwarzer Punkt in einer Welt der Finsternis. Für Simon, dessen Gedanken in einem Strom von Schmerzen und Hunger trieben, ergab das keinen Sinn.
»Komm«, flüsterte eine Stimme ihm zu. Simon hatte diesen ganzen zweiten Tag auf dem Rad – oder war es bereits der dritte? –Stimmen gehört. Was war ihm eine weitere Stimme, was ein neuer Fleck aus tanzendem Licht?
»Komm.«
Unvermittelt war er frei, frei vom Rad, frei von den Stricken, die an seinen Gelenken brannten. Etwas zog ihn auf den Funken zu, und er konnte nicht begreifen, weshalb die Flucht so leicht gewesen war … bis er sich umdrehte.
Ein Körper hing am langsam kreisenden Radkranz, eine nackte weiße Gestalt, zusammengesackt in den Seilen. Flammendrotes Haar klebte schweißnass auf der Stirn. Das Kinn war auf die Brust gesunken.
Wer ist das? , fragte Simon sich einen Moment … aber er wusste die Antwort.
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