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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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der unwahrscheinlichsten Fluchtmöglichkeiten.
    Vielleicht würde während der Schlafenszeit Stanhelm kommen und ihn losschneiden. Inch hatte irgendwo in der Schmiede seine eigene Höhle. Mit etwas Glück konnte man Simon befreien, ohne dass der riesige Aufseher es überhaupt merkte. Aber wohin sollte er gehen? Und wie kam er darauf, dass Stanhelm überhaupt noch lebte, oder wenn doch, dass er sein Leben wagen würde, um jemanden zu retten, den er kaum kannte?
    Und ein anderer? Aber wer? Keiner der übrigen Schmiedeknechte scherte sich darum, ob Simon tot oder lebendig war – er konnte es ihnen nicht einmal vorwerfen. Wie konnte man sich um einen anderen sorgen, wenn man selbst pausenlos kämpfen musste, um die Luft zu atmen, die Hitze zu überstehen und nach den Launen eines viehischen Meisters schwerste Knochenarbeit zu verrichten?
    Diesmal gab es auch keine Freunde, die ihn retten konnten. Selbst wenn es Binabik und Miriamel gelang, auf irgendeinem Weg in die Burg einzudringen, würden sie bestimmt nicht hierherkommen. Sie suchten den König und ahnten nicht einmal, dass Simon noch lebte. Andere, die ihm früher aus Gefahren geholfen hatten – Jiriki, Josua, Aditu –, waren weit entfernt, draußen im Grasland oder auf dem Marsch nach Nabban. Alle Freunde, die er einst in der Burg gehabt hatte, waren fort. Selbst wenn er es schaffte, sich zu befreien, wusste er nicht, wohin er fliehen und was er anfangen sollte. Inch würde ihn nur wieder ergreifen, und das nächste Mal würde sich der Schmiedemeister vielleicht nicht mit einer so gemächlichen Folter begnügen.
    Wieder zerrte Simon an seinen Fesseln, aber sie bestanden aus dicken Tauen, hergestellt, um die Belastungen einer Schmiede auszuhalten, und gaben kein Stückchen nach. Er konnte tagelang an ihnen arbeiten und würde sich doch nur die Haut von den Gelenkenscheuern. Selbst die Nägel, die die verknoteten Stricke an den Radbalken hielten, waren keine Hilfe; Inch hatte sie so sorgfältig zwischen den einzelnen Strängen eingeschlagen, dass sich nichts aufdröselte.
    Allmählich verschlimmerte sich das Brennen in Armen und Beinen. Simon fühlte, dass echte Angst in ihm zu hämmern begann. Er konnte sich nicht rühren. Ganz gleich, was geschah, ganz gleich, wie schlimm es noch wurde – so laut er auch schrie, so heftig er sich freizustrampeln versuchte –, er war machtlos.
    Es würde fast eine Erleichterung bedeuten, dachte er, wenn Pryrates kam und entdeckte, dass er Inchs Gefangener war. Der rote Priester würde ihm schreckliche Dinge antun, aber wenigstens würden es verschiedene schreckliche Dinge sein – scharfe Schmerzen, lange Schmerzen, kleine und große Schmerzen. Hier dagegen, das war ihm klar, würde es nur nach und nach einfach immer unerträglicher werden. Bald würde ihn auch der Hunger quälen. Er hatte schon fast einen ganzen Tag nichts mehr gegessen und dachte mit einer fast wahnhaften Sehnsucht an seine letzte Schüssel mit schaumfleckiger Suppe zurück.
    Als er wieder kopfüber hing, drehte sich sein Magen um und befreite ihn vorübergehend vom Hunger. Wenig genug, um dafür dankbar zu sein, aber Simon erwartete auch nicht mehr viel vom Leben.
     
    Der Schmerz, der seinen Körper aufzehrte, war mit einer Wut gepaart, die seine Leiden noch wachsen ließen, einer hilflosen Wut, die sich nicht austoben konnte und stattdessen an den Grundfesten seines Verstandes rüttelte. Wie ein erboster Mann, dem er einmal in Erchester zugesehen hatte, wie er den gesamten Inhalt seines Hauses Stück für Stück aus dem Fenster warf, hatte er dem Feind nichts anderes entgegenzuschleudern als seinen ureigensten Besitz: seine Überzeugungen, seine Liebe, seine kostbarsten Erinnerungen.
    Er fand, dass Morgenes, Josua, Binabik und alle anderen ihn ausgenutzt hatten. Sie hatten sich einen Jungen gegriffen, der nicht einmal seinen Namen schreiben konnte, und ihn zu ihrem Werkzeug gemacht. Von ihnen manipuliert und zu ihrem Vorteil war er ausseiner Heimat vertrieben worden. Er hatte viele sterben sehen, die ihm lieb gewesen waren, und die Zerstörung von Unschuld und Schönheit erlebt. Ohne Mitspracherecht an seinem eigenen Schicksal hatte man ihn hierhin und dorthin geschickt und ihm gerade so viele Halbwahrheiten erzählt, dass er nicht die Lust verlor. Um Josuas willen hatte er gegen einen Drachen gekämpft und gesiegt – und dann hatte man ihm das Große Schwert abgenommen und einem anderen gegeben. Wegen Binabik war er in Yiqanuc geblieben – vielleicht

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