Der Engelsturm
das nicht von uns«, antwortete Yis-fidri endlich. »Du befandest dich an einem gefährlichen Ort – gefährlicher, als du wissen kannst –, und du brachtest etwas dorthin, das du nicht hättest haben dürfen. Das Gleichgewicht ist äußerst empfindlich.« Die Worte klangen gestelzt und fast lächerlich, aber der Unwille darin war nicht zu verkennen.
»Gefährlich?« Ein Funke von Empörung flammte auf. »Welches Recht habt ihr, mich von der Seite meines Freundes zu reißen? Ich entscheide selbst, was gefährlich für mich ist.«
Er schüttelte den Kopf. »Nicht für dich – oder nicht allein für dich. Schreckliche Dinge gehen vor, und dieser Ort … ist kein guterOrt.« Er schien sich sehr unbehaglich zu fühlen. Ein Stückchen hinter ihm wiegten sich die anderen Unterirdischen und summten nervös vor sich hin. So unglücklich sie auch war, hätte Miriamel über den sonderbaren Anblick fast gelacht. »Wir können dich nicht dorthin gehen lassen. Es tut uns außerordentlich leid. Ein paar von uns werden zurückkehren und deinen Freund suchen.«
»Warum habt ihr ihm nicht geholfen? Warum habt ihr ihn nicht auch mitgenommen, wenn es so wichtig war, dass wir von dort wegkamen?«
»Wir hatten große Angst. Er kämpfte mit einem Nichtlebenden, oder so schien es. Und das Gleichgewicht ist dort sehr empfindlich.«
»Was heißt das?« Miriamel stand auf, im Augenblick eher zornig als ängstlich. »Das könnt ihr nicht tun!« Sie wollte auf eine dunkle Stelle der Höhlenwand zugehen, die ihr wie ein Tunneleingang vorkam. Yis-fidri streckte den Arm aus und nahm ihr Handgelenk. Seine dünnen Finger waren schwielig und steinhart. Es lag eine trügerische Kraft in den schmalen Armen der Unterirdischen.
»Bitte, sterbliche Frau. Wir wollen dir alles sagen, was wir können. Begnüge dich für jetzt damit, bei uns zu bleiben. Wir werden deinen Freund suchen.«
Sie wehrte sich, aber es war aussichtslos. Ebenso hätte sie versuchen können, einen Mühlstein hinter sich herzuziehen.
»Nun gut«, meinte sie endlich. Ihre Furcht wurde zur Hoffnungslosigkeit. »Mir bleibt keine Wahl. Dann erzählt mir wenigstens, was ihr wisst. Aber wenn Binabik durch eure Schuld etwas zustößt, dann werde ich … dann werde ich einen Weg finden, um euch zu bestrafen, ganz gleich, wer ihr seid. Verlasst euch darauf.«
Yis-fidri ließ den großen Kopf hängen wie ein gescholtener Hund. »Es ist nicht unsere Gewohnheit, andere gegen ihren Willen zu zwingen. Wir haben selbst allzu viel unter schlechten Herren gelitten.«
»Und noch etwas – wenn ich schon eure Gefangene sein soll, dann nennt mich wenigstens bei meinem Namen. Ich heiße Miriamel.«
»Ja, Miriamel.« Yis-fidri ließ ihren Arm los. »Verzeih uns, Miriamel, oder verurteile uns wenigstens nicht, bevor du uns angehört hast.«
Sie hob die Schale und trank wieder. »Dann erzählt.«
Der Unterirdische sah seine Gefährten an, den Kreis riesengroßer, dunkler Augen, und begann zu sprechen.
»Und wie geht es Maegwin?«, fragte Isorn. Der Verband gab seinem Kopf ein merkwürdig geschwollenes Aussehen. Eisige Luft kroch durch die Zeltklappe und ließ die Flammen des kleinen Feuers aufflackern.
»Ich hatte gedacht, sie würde zu uns zurückkehren«, seufzte Eolair. »Gestern Nacht hat sie sich etwas bewegt und tiefer geatmet. Sie hat sogar gesprochen, aber nur sehr leise, und ich konnte sie nicht verstehen.«
»Aber das ist doch eine gute Nachricht. Warum machst du ein so langes Gesicht?«
»Die Sitha kam, um nach ihr zu sehen. Sie sagte, es sei wie ein Fieber – manchmal tauche der Kranke an die Oberfläche wie ein Ertrinkender, der zum letzten Mal nach Luft schnappt, aber das wolle nicht heißen, dass …« Seine Stimme bebte, und er musste sich anstrengen, um nicht die Fassung zu verlieren.
»Die Heilerin sagt, sie sei dem Tod noch ebenso nah wie vorher, wenn nicht näher.«
»Und du glaubst ihr?«
»Es ist keine Krankheit des Fleisches, Isorn«, antwortete der Graf ruhig. »Es ist eine Wunde in ihrer Seele, die vorher schon Schaden genommen hatte. Du hast sie in den letzten Wochen erlebt.« Er verschränkte die Finger und löste sie wieder. »Die Sithi verstehen mehr von diesen Dingen als wir. Was immer Maegwin zugestoßen ist, es sind keine sichtbaren Spuren zurückgeblieben, weder gebrochene Knochen noch blutende Wunden. Sei dankbar, dass deine Verletzung heilbar ist.«
»Oh, das bin ich, bei meinem Glauben.« Der junge Rimmersmann machte ein betrübtes Gesicht. »Ach,
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