Der Engelsturm
schlanken Fingern. »Es ist wirklich ihr Name. Das ist die Runenkunst der Tinukeda’ya. Unterirdische, sagt Ihr?«
Eolair nickte. »Ich habe Jiriki zu ihrer Stadt unter der Erde geführt – Mezutu’a.« Sie gab ihm den Stein zurück. Er hielt ihn in der Hand, wog ihn und schaute zu, wie sich das Licht des Feuers in seinen Tiefen verirrte. »Ich wusste gar nicht, dass sie ihn mitgenommen hat.«
Maegwin stöhnte plötzlich auf, ein tiefer Laut, der den Grafen zusammenzucken ließ. Hastig wandte er sich dem Lager zu. Wieder gab sie einen Laut von sich, und es klang, als habe er eine Bedeutung.
»Verloren«, murmelte Kira’athu und kam näher.
Eolairs Herz krampfte sich zusammen. »Was heißt das?«
»Das ist es, was sie gesagt hat. Sie spricht die Gartensprache.«
Der Graf blickte auf Maegwins gefurchte Stirn. Wieder bewegte sich ihr Mund, aber nur ein wortloses Zischen war zu hören. Ihr Kopf auf dem Kissen peitschte hin und her. Plötzlich schossen ihre Hände vor und kratzten an Eolairs Händen. Als er den Stein zur Seite legen wollte, um nach ihren Fingern zu greifen, entriss sie ihm den Kristall und presste ihn an ihre Brüste. Die fiebrigen Zuckungen ließen nach, und sie wurde ruhig. Ihre Augen waren noch immer geschlossen, aber sie schien nun wieder friedlich zu schlummern.
Eolair betrachtete sie bestürzt. Kira’athu beugte sich über sie, berührte ihre Stirn und roch ihren Atem.
»Geht es ihr besser?«, fragte der Graf endlich.
»Sie ist uns nicht nähergekommen. Aber sie hat für eine Weile Ruhe gefunden. Ich glaube, es war der Stein, den sie gesucht hat.«
»Aber warum?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde mit Likimeya und ihrem Sohn undallen anderen, die vielleicht etwas darüber wissen, sprechen. Aber es ändert nichts, Eolair – es ist, wie es war. Aber vielleicht hat sie dort, wo sie umherwandert, auf der Traumstraße oder wo auch immer, jetzt weniger Angst. Das ist gut.«
Sie zog die Decke über Maegwins Hände, die den Stein der Unterirdischen umklammerten, als sei er ein Teil ihres Körpers.
»Ihr solltet Euch ausruhen, Graf Eolair.« Die Sitha näherte sich dem Ausgang. »Ihr werdet ihr nichts nützen, wenn Ihr selbst erkrankt.«
Die Klappe öffnete und schloss sich wieder. Ein kalter Luftzug wehte durch das Zelt.
Isgrimnur sah zu, wie Lektor Velligis den Thronsaal verließ. Die Sänfte des gewichtigen Mannes wurde von acht Wachen mit vor Anstrengung verzerrten Gesichtern getragen und von einer Prozession von Priestern angeführt, die heilige Gegenstände und qualmende Weihrauchfässchen vor sich hertrugen. Isgrimnur musste an einen fahrenden Jahrmarkt auf dem Weg zum nächsten Dorf denken.
Wegen seiner Verletzungen hatte der Herzog nicht zu knien brauchen und darum den Auftritt des neuen Lektors von einem Sessel an der Wand verfolgt.
Camaris, so würdig er auch aussah, schien sich auf dem hohen Herzogsthron nicht sonderlich wohlzufühlen. Josua, der neben ihm gekniet hatte, während Lektor Velligis den Segen sprach, stand jetzt auf.
»So.« Er klopfte sich den Staub von den Knien. »Mutter Kirche geruht unseren Sieg anzuerkennen.«
»Was bleibt Mutter Kirche anderes übrig?«, knurrte Isgrimnur. »Wir haben gesiegt. Velligis gehört zu den Leuten, die ihr Geld immer auf den Favoriten setzen – auf jeden Favoriten.«
»Er ist der Lektor, Herzog Isgrimnur«, bemerkte Camaris streng. »Gottes Statthalter auf Erden.«
»Camaris hat recht. Was immer er vorher war, man hat ihn auf den Sitz des Höchsten erhoben. Er verdient unsere Achtung.«
Isgrimnur gab einen angewiderten Laut von sich. »Ich bin alt, ich habe Schmerzen, und ich weiß, was ich weiß. Ich kann den Heiligen Sitz achten, ohne den Mann zu mögen. Hat denn der Raub des Drachenbeinthrons Euren Bruder in einen guten König verwandelt?«
»Es hat ja auch noch nie jemand behauptet, dass die Krone ihren Träger unfehlbar macht.«
»Versucht nur, das den meisten Königen zu erklären«, schnaubte Isgrimnur.
»Bitte.« Camaris hob die Hand. »Nichts mehr davon. Es war ein anstrengender Tag, und er ist noch nicht beendet.«
Isgrimnur warf dem alten Ritter einen Blick zu. Er sah tatsächlich müde aus, auf eine Art, die der Herzog noch nie an ihm gesehen hatte. Man hätte eigentlich denken müssen, dass Camaris sich freuen würde, Nabban aus den Händen des Mörders seines Bruders befreit zu haben, aber stattdessen schien seine Tat ihm alle Lebenskraft entzogen zu haben.
Es ist, als wüsste er, dass ihm noch etwas
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