Der Engelsturm
Berührung.
Er klammerte sich an diese Erinnerung. Immerhin war sie etwas, über das man nachdenken konnte, etwas anderes als das grässliche Knurren in seinem Magen und der Schmerz in seinen Gliedern.
Was habe ich gesehen? Dass der Teich unter der Burg wieder lebt, neu gefüllt von dem Wasser, das unter diesem Rad plätschert? Der Teich! Warum habe ich nicht schon früher daran gedacht? Jiriki – nein, Aditu – sagte, es gäbe etwas in Asu’a, das »Teich der Drei Tiefen« heißt, einen Meisterzeugen. Das muss das Wasser gewesen sein, das ich dort unten gesehen habe. Gesehen? Ich habe daraus getrunken! Aber was bedeutet das alles, selbst wenn es sich so verhält? Er versuchte sich zu konzentrieren. Der Engelsturm, dieser Baum, der Teich – gibt es eine Verbindung zwischen ihnen?
Er erinnerte sich an die Träume von einem weißen Baum, die ihn lange Zeit heimgesucht hatten. Zuerst hatte er angenommen, es handele sich um den Udunbaum auf dem froststarrenden Berg Yijarjuk, jenen gewaltigen Wasserfall aus purem Eis, dessen phantastische Pracht ihn betäubt hatte. Aber nach und nach war er zu dem Schluss gekommen, dass der Traum noch einen anderen Sinn haben musste.
Ein weißer Baum ohne Blätter. Der Engelsturm. Wird sich dort etwas ereignen? Aber was? Er lachte heiser und überraschte sich selbst durch sein Krächzen – viele, viele Stunden hatte er keinen Ton von sich gegeben. Und was kann ich überhaupt noch tun? Es Inch erzählen?
Aber irgendetwas ging vor. Der Teich lebte, und der Engelsturm wartete … und das Wasserrad drehte sich und drehte sich und drehte sich.
Ich habe auch immer von einem Rad geträumt – von einem großen Rad, das sich mitten durch die Zeit drehte, das die Vergangenheit ans Licht zog und alles Lebendige nach unten in die Erde drückte – nicht nur so ein großes Stück Holz, vom schmutzigen Wasser bewegt, wie dieses hier.
Wieder brachte ihn das Rad nach unten und kippte ihn um, sodass das Blut ihm in den Kopf brauste und seine Schläfen dröhnten.
Was hat der Engel mir in dem anderen Traum gesagt? Simon verzog das Gesicht und erstickte einen Schrei. Der Schmerz sank in seine Beine, ein Gefühl, als steche man ihn mit langen Nadeln. »Geh tiefer«, hatte der Engel gesagt. »Geh tiefer.«
Rings um Simon bröckelten die Mauern der Zeit, als rolle das Rad, das ihn trug, so wie das Rad in seinen Träumen, mitten durch das Gewebe des Augenblicks auf die Vergangenheit zu. Die Burg unter ihm, das große Asu’a, seit fünf Jahrhunderten ausgestorben, war so wirklich wie der Hochhorst über ihm. Die Taten der Verstorbenen – und der Untoten wie Ineluki – waren so fassbar wie die der Männer und Frauen seiner eigenen Zeit. Und zwischen ihnen allen drehte sich Simon, nur noch Haut und Knochen, gefangen am Radkranz der Ewigkeit, unfreiwillig durch den Spuk der Gegenwart und die lebendige Vergangenheit geschleift.
Etwas berührte sein Gesicht. Simon tauchte aus dem Delirium auf und spürte Finger, die über seine Wange strichen. Sekundenlang hingen sie in seinem Haar und glitten ab, als das Rad ihn fortzog. Er öffnete die Augen, aber entweder war er blind oder man hatte alle Fackeln in der Höhle gelöscht.
»Was bist du?«, fragte eine brüchige Stimme. Sie war gleich neben ihm, aber er entfernte sich bereits von ihr. »Ich höre dich rufen. Deine Stimme ist nicht wie die anderen. Und ich kann dich fühlen. Was bist du?«
Simons Mund war so zugeschwollen, dass er kaum atmen konnte.Er versuchte zu sprechen, aber es kam nur ein schwacher, gurgelnder Laut.
»Was bist du?«
Simon strengte sich an, Antwort zu geben, und fragte sich im selben Moment, ob er schon wieder träumte. Doch bei all ihrer Aufdringlichkeit hatte ihn keiner seiner Träume mit Fingern aus festem Fleisch berührt.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, während er zum Scheitelpunkt des Rades aufstieg, wo die großen Ketten ächzend in die Höhe ruckten, und dann wieder in die Tiefe kreiste. Als er unten ankam, hatte er so viel Speichel gesammelt, dass es fast zum Sprechen reichte, obwohl die Anstrengung ihm die schmerzende Kehle zerriss.
»Hilf … mir …«
Aber wenn noch jemand dort war, sagte er nichts mehr und berührte ihn auch nicht wieder. Simons Weg setzte sich ohne Unterbrechung fort. Allein im Dunkeln weinte er ohne Tränen.
Das Rad drehte sich, Simon mit ihm.
Manchmal spritzte Wasser über sein Gesicht und tropfte ihm in den Mund. Wie der Teich der Drei Tiefen nahm er es durstig auf, um den
Weitere Kostenlose Bücher