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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Funken in seinem Inneren am Leben zu halten. Durch seinen Verstand huschten Schatten. Im Vorhof seines Ohrs zischten Stimmen. Seine Gedanken schienen keine Grenzen zu kennen, aber gleichzeitig war er in der Hülle seines geschundenen, sterbenden Körpers gefangen. Er begann sich nach Erlösung zu sehnen.
    Das Rad drehte sich, Simon mit ihm.
     
    Er starrte hinaus in formloses Grau, eine unendliche Weite, die dennoch fast greifbar schien. Darin schwebte eine Gestalt, mattschimmernd, graugrün wie sterbende Blätter – der Engel von der Turmspitze.
    »Simon«, sagte der Engel, »ich will dir etwas zeigen.«
    Selbst in seinen Gedanken konnte Simon keine Frage mehr formen.
    »Komm. Wir haben nicht viel Zeit.«
    Gemeinsam gingen sie durch feste Mauern, gelangten ungehindert an andere Orte. Wie ein Nebel, der unter heißer Sonne verdampft,schwankte und schmolz das Grau. Simon blickte auf eine Szene, die er schon einmal gesehen hatte, ohne dass er noch wusste, wo das gewesen war. Ein junger Mann mit goldenem Haar stieg vorsichtig einen Tunnel hinunter. In einer Hand trug er eine Fackel, in der anderen einen Speer.
    Simon schaute sich nach dem Engel um, aber da war nur der Mann mit dem Speer, in einer Haltung furchtsam gespannter Erwartung. Aber wer war er? Warum sollte Simon ihn sehen? War er Vergangenheit? Gegenwart? Jemand, der ihn retten wollte?
    Auf leisen Sohlen bewegte der Mann sich vorwärts. Der Tunnel erweiterte sich, und der Schein der Fackel fiel auf die steinernen Ranken und Blumen, deren verschlungene Muster die Wände bedeckten. Ganz gleich, in welcher Zeit er sich befand – Vergangenheit, Zukunft oder Gegenwart –, zumindest wusste Simon jetzt genau, wo er war: in Asu’a, in den Tiefen unter dem Hochhorst.
    Plötzlich blieb der Mann stehen, trat einen Schritt zurück, hob den Speer. Das Licht schien auf etwas Gewaltiges, das in der Halle vor ihm aufragte. Grell glitzerte Fackelschein auf tausend roten Schuppen. Ein ungeheurer Klauenfuß lag nur wenige Schritte vor dem Bogengang, in dem der Speerträger stand, die Krallen waren wie Messer aus gelbem Gebein.
    »Schau nun. Es ist ein Teil deiner eigenen Geschichte …«
    Doch noch während der Engel sprach, verblasste plötzlich das Bild.
     
    Wieder erwachte Simon. Er fühlte eine Hand auf seinem Gesicht und Wasser, das zwischen seine Lippen floss. Er hustete und spuckte, tat aber sein Bestes, um jeden Tropfen in sich aufzunehmen.
    »Du bist ein Mensch«, sagte eine Stimme. »Du bist wirklich.«
    Wieder wurde ihm Wasser über das Gesicht und in den Mund gegossen. Es war schwer, mit dem Kopf nach unten zu schlucken, aber Simon hatte in seinen Stunden auf dem Rad dazugelernt.
    »Wer …«, flüsterte er mühsam durch rissige Lippen. Die Hand strich über seine Züge, zart wie eine neugierige Spinne.
    »Wer ich bin?«, fragte die Stimme. »Ich bin der, der hier ist. An diesem Ort, meine ich.«
    Simons Augen wurden groß. Irgendwo in einer anderen Höhle brannte noch eine Fackel, und er konnte den Umriss eines wirklichen Menschen, eines Mannes sehen. Doch noch während er ihn ansah, zog das Rad ihn wieder in die Höhe. Wenn er zurückkam, würde dieses lebende Geschöpf bestimmt nicht mehr da sein, ihn wieder allein gelassen haben.
    »Wer ich bin?«, überlegte der Mann. »Ich hatte einmal einen Namen – aber das war nicht hier. Als ich noch lebte.«
    Simon konnte solche Reden nicht ertragen. Alles, was er wollte, war ein Mensch, ein richtiger Mensch, mit dem er sprechen konnte. Er stieß ein ersticktes Schluchzen aus.
    »Ich hatte einen Namen«, fuhr der Mann fort. Seine Stimme wurde leiser, als Simon sich von ihm fortdrehte. »Damals, an jenem anderen Ort, bevor alles geschah. Sie nannten mich Guthwulf.«



21
Die Furchtsamen

    angsam wurde Miriamel wieder wach. Es war stockdunkel. Sie bewegte sich, allerdings nicht aus eigener Kraft, sondern von etwas oder jemandem getragen wie ein Bündel Kleider. Noch immer füllte der widerwärtig süßliche Geruch ihre Nase. Ihre Gedanken kamen langsam und zähflüssig.
    Was war denn nur … Binabik hat mit diesem Mann gekämpft, der so grausig grinste …
    Verschwommen erinnerte sie sich, dass man sie gepackt und ins Dunkel gezerrt hatte. Sie war eine Gefangene … aber wessen? Ihres Vaters? Oder schlimmer … viel schlimmer … Pryrates’ Gefangene? Miriamel versuchte die Beine zu bewegen, aber sie waren fest zusammengebunden – nicht so schmerzhaft wie mit Stricken oder Ketten, aber genauso unnachgiebig. Auch ihre

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