Der Engelsturm
Arme waren gefesselt. Sie war hilflos wie ein kleines Kind.
»Lasst mich los!«, rief sie und wusste, dass es keinen Sinn hatte; aber sie konnte ihre ohnmächtige Wut einfach nicht zurückhalten. Ihre Stimme kam nur gedämpft. Der Sack, oder was es sonst war, bedeckte weiterhin ihr Gesicht.
Wer immer sie trug, gab keine Antwort. Der holprige Gang wurde nicht langsamer. Miriamel zappelte noch ein bisschen und gab dann auf.
Sie war in eine Art Halbschlaf gesunken, als ihr Träger anhielt. Man setzte sie mit erstaunlicher Behutsamkeit nieder und nahm ihr vorsichtig den Sack vom Kopf.
Zuerst tat das Licht, obwohl es nicht sehr hell war, ihren Augen weh. Sie war umringt von dunklen Gestalten, von denen eine so nahbei ihr stand, dass sie den Umriss nicht gleich als Kopf erkannte. Als ihre Augen sich an die Dämmerung gewöhnten, schnappte sie nach Luft und wich hastig zurück, bis sie mit dem Rücken gegen den harten Stein stieß. Sie war von Ungeheuern umzingelt!
Das vorderste Wesen zuckte vor Schreck über ihre plötzliche Bewegung zusammen. Wie die anderen war es in gewisser Weise menschenähnlich, besaß aber riesige dunkle Augen ohne Weiß und ein mageres, viereckiges Gesicht, das am Ende eines langen, dünnen Halses hin- und herwackelte. Es streckte ihr eine langfingrige Hand entgegen und zog sie gleich wieder zurück, als hätte es Angst, gebissen zu werden. Dann sagte es ein paar Worte in einer Sprache, die ähnlich wie Hernystiri klang. Miriamel starrte es entsetzt und verständnislos an. Das Wesen versuchte es noch einmal, jetzt in zögerndem, merkwürdig betontem Westerling.
»Haben wir dir Schaden zugefügt?« Das spindeldürre Geschöpf schien ernstlich besorgt. »Bitte, geht es dir gut? Gibt es etwas, das wir dir bringen können?«
Miriamel riss Mund und Nase auf und versuchte sich aus der Reichweite des Wesens zu schlängeln. Es schien ihr nichts tun zu wollen, zumindest vorläufig. »Ein wenig Wasser«, bat sie. »Wer seid ihr?«
»Yis-fidri bin ich«, erwiderte das Wesen. »Diese anderen sind von meinem Volk, und das hier ist meine Gefährtin Yis-hadra.«
»Aber was seid ihr?« Miriamel fragte sich, ob die anscheinende Freundlichkeit dieser Wesen vielleicht eine List war.
Sie versuchte sich heimlich nach ihrem Messer umzusehen, dessen Scheide nicht mehr an ihrem Gürtel hing, und achtete dabei zum ersten Mal auf ihre Umgebung. Sie befand sich in einer Höhle, unauffällig bis auf die rauhe Oberfläche des Felsens. Ein mattes, rosiges Glühen erhellte den Raum, ohne dass Miriamel eine Lichtquelle ausmachen konnte. Ein paar Schritte entfernt lagen ihre und Binabiks Gepäckstücke an der Wand. Es waren Dinge darin, die man notfalls als Waffe gebrauchen konnte.
»Was wir sind?« Das Wesen namens Yis-fidri nickte feierlich. »Wir sind die Letzten unseres Volkes oder wenigstens die Letzten, die diesen Weg gewählt haben, den Weg von Stein und Erde.« Dieanderen Wesen gaben einen melodischen Laut des Bedauerns von sich, als sei die beiläufige Bemerkung von großer Bedeutung. »Dein Volk kannte uns als Unterirdische.«
»Unterirdische!« Miriamel hätte nicht überraschter sein können, wenn Yis-fidri verkündet hätte, sie seien Engel. Unterirdische, das waren Gestalten aus den Volkssagen, Kobolde, die im Inneren der Erde hausten. Und doch, so unglaublich es war, hier standen sie vor ihr. Mehr noch, es lag etwas in Yis-fidris Art, das ihr sonderbar vertraut schien, als hätte sie ihn oder seinesgleichen schon früher gekannt. »Unterirdische«, wiederholte sie und spürte, wie ein erschrockenes kleines Lachen in ihr aufstieg. »Noch ein Märchen, das wahr wird!« Sie setzte sich gerader hin, damit man ihre Angst nicht sah. »Wenn ihr mir keinen Schaden zufügen wollt, dann bringt mich zu meinem Freund zurück. Er ist in Gefahr.«
Das Geschöpf mit den Untertassenaugen blickte traurig. Es stieß einen wohlklingenden Ton aus, und einer der anderen Unterirdischen trat mit einer steinernen Schale vor. »Nimm und trink. Es ist Wasser, wie du gewünscht hast.«
Miriamel schnüffelte misstrauisch, begriff dann aber, dass die Unterirdischen, die sie so mühelos entführt hatten, es nicht nötig hatten, sie zu vergiften. Sie trank und genoss das Gefühl des klaren, kalten Wassers in ihrer trockenen Kehle.
»Werdet ihr mich zurückbringen?«, fragte sie dann.
Die Unterirdischen tauschten erregte Blicke, und ihre Köpfe schwankten wie Mohnblumen auf einem windigen Feld. »Bitte, sterbliche Frau, fordere
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