Der Engelsturm
Denken überhaupt gestattet hatte –, dass Miriamel, wenn sich ihre erste Furcht vor Entdeckung gelegt hätte, etwas freundlicher zu ihm sein würde. Stattdessen schien sich ihre Laune im Lauf der Nacht nur noch mehr verdüstert zu haben.
Die Bäume auf der Anhöhe wuchsen dicht beieinander und bildeten zwischen ihrem improvisierten Lagerplatz und der Straße einen fast lückenlosen Wall. Sie zündeten kein Feuer an – Simon musste zugeben, dass es so vernünftiger war –, sondern teilten nur beim Schein des Mondes ein wenig Wasser und Wein und nagten an einem Stück von Miriamels Brot. Als sie dann in ihre Mäntel gewickelt nebeneinander in den Decken lagen, stellte Simon überrascht fest, dass alle Müdigkeit verflogen war. Tatsächlich, er fühlte sich überhaupt nicht schläfrig. Er lauschte. Obwohl Miriamels Atem ruhig und gleichmäßig ging, hörte es sich auch nicht nach Schlafen an. Irgendwo in den Bäumen zirpte leise eine einsame Grille.
»Miriamel?«
»Ja?«
»Ihr solltet mir lieber sagen, wohin wir reisen. Ich könnte Euch dann besser beschützen. Ich könnte über alles nachdenken und gemeinsam mit Euch planen.«
Die Prinzessin lachte leise. »Davon bin ich überzeugt. Ich sage es dir ja auch, Simon. Nur nicht heute Nacht.«
Unzufrieden sah Simon zu den Sternen auf, die durch die Äste blinkten. »Also gut.«
»Du solltest jetzt schlafen. Wenn die Sonne erst aufgegangen ist, fällt es schwerer.«
Steckte denn in allen Frauen ein Stück von Rachel dem Drachen? Zumindest schien es ihnen allen Freude zu machen, ihn herumzukommandieren. Er öffnete den Mund, um ihr zu sagen, dass er gar nicht müde sei, stattdessen gähnte er.
Er wollte sich gerade daran erinnern, was er ihr sagen wollte, als er einschlief.Im Traum stand Simon am Rand eines großen Meeres. Vor ihm lag ein Strand, von dem aus sich ein schmaler Damm weit hinaus in die Kämme der Wogen erstreckte; er führte zu einer weit vor der Küste liegenden Insel. Sie war leer bis auf drei hohe, weiße Türme, die in der Spätnachmittagssonne schimmerten. Aber Simons Aufmerksamkeit galt nicht den Türmen. Um sie herum wanderte eine kleine Gestalt mit weißem Haar und blauem Gewand, trat in ihren dreifachen Schatten und verließ ihn wieder. Simon wusste, dass es Doktor Morgenes war, den er auf der Insel sah.
Nachdenklich musterte er den Damm. Man konnte bequem darauf hinübergehen, aber die Flut stieg bereits und würde die schmale Landzunge vielleicht bald ganz überspülen. Da vernahm Simon in der Ferne eine Stimme. Draußen auf dem Meer, etwa auf halbem Weg zwischen der Insel und den felsigen Uferklippen, auf denen Simon stand, schaukelte und tanzte ein kleines Boot im Sog hoher Wellen. Zwei Gestalten standen aufrecht darin, die eine groß und kräftig, die andere klein und schlank. Es dauerte einen Augenblick, bevor er Geloë und Leleth erkannte. Die Frau rief ihm etwas zu, aber das Brausen des Meeres übertönte ihre Stimme.
Was tun sie da draußen im Boot? , dachte Simon. Es wird doch bald Nacht!
Er ging einige Schritte auf den schmalen Damm hinaus. Kaum hörbar drang Geloës Stimme über die Wellen an sein Ohr. »Falsch!«, rief sie. »Es ist falsch!«
Was ist falsch? , fragte sich Simon. Die Landzunge? Aber die machte einen durchaus stabilen Eindruck. Die Insel selbst? Er spähte zu ihr hinüber. Aber obwohl die Sonne inzwischen tief am Horizont stand und die Türme in schwarze Finger und Morgenes’ Gestalt in etwas ameisenhaft Kleines und Dunkles verwandelt hatte, schien ihm die Insel nach wie vor festgefügt und beständig. Wieder tat er ein paar Schritte.
»Falsch!«, rief Geloë wieder.
Jäh färbte der Himmel sich dunkel, und das Heulen eines aufkommenden Windes übertönte das Brausen der Wellen. Im Nu wurde die grünliche See erst blau, dann blauweiß, und plötzlich erstarrten die Wellen und gefroren zu harten, spitzen Eiskeilen. Verzweifeltruderte Geloë mit den Armen, aber rings um ihr Boot stieg das Meer in die Höhe und zerbarst. Mit einem Aufbrüllen und einem Schwall schwarzen Wassers, lebendig wie Blut, verschwanden Geloë, Leleth und das Boot unter den gefrorenen Wogen, hinabgezogen in die Finsternis.
Über den Damm kroch das Eis. Simon fuhr herum. Er war auf einmal ebenso weit vom Strand wie von der Insel entfernt, und beide Punkte schienen vor ihm davonzulaufen und ihn allein in der Mitte einer immer länger werdenden, steinernen Nehrung zurückzulassen. Höher stieg das Eis, kletterte an seinen Stiefeln hinauf
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