Der Engelsturm
ergänzen. Schließlich schickte er alle zu Bett. Aditu erklärte, sie fühle kein Bedürfnis zu schlafen, und blieb da, um nach dem Kind zu sehen, falls es nachts aufwachte. Josua legte sich vollständig angezogen neben seine Gemahlin, um für jeden Notfall gerüstet zu sein. Augenblicke später lag er im tiefen Schlaf der Erschöpfung.
Als der Prinz morgens erwachte, fand er Aditu noch immer an Leleths Seite. Wohin der Geist des Kindes Geloë auch begleitet haben mochte, er war noch nicht zurückgekehrt.
Wenig später ritten Hotvig und seine Männer ins Lager ein, müde und mit leeren Händen.
2
Geistermond
ie ritten in fast völliger Stille, die Prinzessin voran, auf der anderen Seite der Hügel hinab ins Tal. Ungefähr nach einer Meile bog Miriamel nach Norden ab, sodass sie jetzt den Weg zurückritten, auf dem der Prinz und seine Schar nach Gadrinsett gekommen waren.
Simon erkundigte sich nach dem Grund.
»Weil es hier schon tausend andere frische Hufspuren gibt«, erklärte Miriamel. »Und weil Josua weiß, wohin ich will, und es dumm von mir wäre, auch wirklich in diese Richtung zu reiten, falls er nämlich heute Nacht schon merkt, dass wir das Lager verlassen haben.«
»Josua weiß, wohin wir gehen?«, fragte Simon verstimmt. »Da weiß er mehr als ich.«
»Ich sage es dir, wenn wir so weit weg sind, dass du nicht in einer Nacht zurückkehren kannst«, erwiderte Miriamel kühl. »Wenn die Entfernung so groß ist, dass sie mich nicht mehr einfangen und zurückbringen können.«
Weitere Fragen wollte sie nicht beantworten.
Simon spähte im Dunkeln nach den Abfällen, die die breite, schlammige Spur säumten. Zweimal schon war ein großes Heer hier entlanggezogen, dazu mehrere kleinere Gruppen auf ihrem Marsch zum Sesuad’ra und nach Neu-Gadrinsett. Es würde lange dauern, dachte Simon, bis auf diesem einsamen Stück Grasland wieder Halme wuchsen.
So entstehen vermutlich Straßen, fiel ihm ein, und er musste trotz seiner Müdigkeit grinsen. Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Vielleicht wird es einmal eine richtige königliche Fernstraße werden,gepflastert und mit Herbergen … und dann kenne ich sie noch aus der Zeit, als sie nur ein Trampelpfad von Hufen war.
Natürlich setzte das voraus, dass es, wie immer auch die Zukunft aussehen mochte, dann noch einen König gab, der sich um seine Straßen kümmerte. Nach dem, was Jeremias und andere ihm über die Zustände auf dem Hochhorst erzählt hatten, war es wenig wahrscheinlich, dass Elias sich mit derartigen Dingen abgab.
So ritten sie am Ufer des Stefflod dahin, der im geisterhaften Licht des Mondes silbern glänzte. Miriamel blieb schweigsam, und es kam Simon allmählich vor, als wären sie schon seit endlosen Tagen unterwegs, obwohl der Mond den Scheitelpunkt seiner Bahn gerade erst überschritten hatte. Abwesend beobachtete er Miriamel und bewunderte den Widerschein des Mondlichts auf ihrer hellen Haut, bis sie ihn ärgerlich anfuhr, er solle sie nicht so anglotzen. Verzweifelt auf der Suche nach Zerstreuung, lenkte er seine Gedanken auf die Regeln der Ritterschaft und Camaris’ weise Lehren. Als ihn das nach einer halben Stunde auch nicht mehr fesselte, sang er leise alle Hans-Mundwald-Lieder vor sich hin, die er kannte. Später, nachdem Miriamel mehrere weitere Versuche, ein Gespräch anzufangen, vereitelt hatte, fing Simon an, die Sterne zu zählen, die so zahlreich am Himmel funkelten wie verschüttete Salzkörner auf einer Tischplatte aus Ebenholz.
Endlich, als Simon schon überzeugt war, dass er bald den Verstand verlieren würde – so wie er auch sicher war, dass diese eine lange Nacht sich nun schon eine ganze Woche hinzog –, zügelte Miriamel ihr Pferd und wies auf eine Baumgruppe, die sich etwa eine Meile von den breiten Wagenspuren der neuen Straße entfernt auf einer kleinen Anhöhe erhob.
»Dort«, sagte sie, »können wir Rast halten und schlafen.«
»Ich brauche noch keinen Schlaf«, log Simon. »Wenn Ihr wollt, können wir weiterreiten.«
»Das ist unnötig. Ich möchte nicht, dass man uns morgen bei Tageslicht im offenen Gelände sieht. Wenn wir erst weiter weg sind, können wir auch bei Tag reiten.«
Simon zuckte die Achseln. »Wie Ihr meint.« Er hatte sich dieses Abenteuer, wenn es denn eins war, schließlich selbst eingebrockt,also konnte er es auch mit Anstand hinter sich bringen. In den ersten Minuten ihrer Flucht hatte er sich ausgemalt – in den wenigen Augenblicken, in denen er sich das
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