Der Engelsturm
Heilkunde. Er soll sich die kleine Leleth anschauen.«
Jeremias, nur allzu froh, sich nützlich machen zu können, rannte davon.
»Wirklich«, erklärte Josua, »ich weiß nicht, was ich von den Ereignissen dieser Nacht halten soll. Aber ich muss gestehen, dass ich große Angst um Miriamel habe. Ihr verdammter Eigensinn!« Er packte Varas Decke und zwirbelte sie wütend.
Als Jeremias mit Binabik und Aditu wiederkam, hatte sich Leleths Zustand nicht verändert. Der kleine Mann untersuchte das Kind sorgfältig.
»Ich habe sie schon früher so gesehen«, meinte er. »Sie ist an einen anderen Ort gegangen, vielleicht auf die Straße der Träume, vielleicht auch anderswo.«
»Aber bestimmt war sie noch nie so lange in dieser Verfassung«, bemerkte Josua. »Ich kann den Gedanken nicht loswerden, dass da ein Zusammenhang mit den Vorfällen von heute Nacht besteht. Könnte das Gift der Nornen diese Wirkung hervorgerufen haben, Aditu?«
Die Sitha kniete neben Binabik nieder und hob die Lider des kleinen Mädchens hoch. Dann legte sie die schlanken Finger unter Leleths Ohr, um zu fühlen, wie schnell ihr Herz schlug. »Ich glaube nicht. Gewiss wäre auch er«, sie deutete auf Jeremias, »davon erfasst worden, wenn das Kei-vishaa sich so weit verbreitet hätte.«
»Seht doch!«, rief Jeremias plötzlich. »Ihre Lippen bewegen sich!«
Obwohl sie noch immer wie im Tiefschlaf dalag, öffnete und schloss sich in der Tat Leleths Mund, als wollte sie sprechen.
»Still.« Josua beugte sich näher, und mit ihm fast alle anderen. Leleths Lippen zuckten. Ein leises Flüstern drang hervor.
»… mich hören …«
»Sie hat etwas gesagt!«, jubelte Jeremias. Ein Blick des Prinzen brachte ihn zum Schweigen.
»… ich will trotzdem sprechen. Ich vergehe. Mir bleibt nur noch wenig Zeit.« Die Stimme aus dem Mund des kleinen Mädchens, wenn auch dünn und hauchleise, hatte einen vertrauten Tonfall.
»Hinter den Nornen, glaube ich, steckt mehr, als wir angenommen haben. Sie spielen ein doppeltes Spiel … Heute Nacht … das war kein Täuschungsversuch, sondern etwas noch viel Heimtückischeres …«
»Was hat das Kind?«, unterbrach Gutrun besorgt. »Sie hat noch nie vorher gesprochen – und es klingt so sonderbar.«
»Es ist Geloë, die da spricht.« Aditu sagte es so gelassen, als bezeichne sie einen entgegenkommenden Bekannten.
»Was?« Die Herzogin schlug das Zeichen des Baumes, die Augen groß vor Furcht. »Was für eine Hexerei ist das?«
Die Sitha neigte sich dicht an Leleths Ohr. »Geloë? Könnt Ihr mich hören?«
Doch wenn es die weise Frau war, die da sprach, so schien sie die Stimme ihrer Freundin nicht zu vernehmen.
»Erinnert euch an Simons Träume«, fuhr sie fort. »Der falsche Bote.« Eine Pause trat ein. Als die Stimme von neuem erklang, war sie schwächer, sodass alle im Zelt den Atem anhielten, damit ja kein Wort verlorenging.
»Ich … sterbe. Leleth ist bei mir … irgendwie … an diesem dunklen Ort. Ich habe sie nie ganz verstanden … und das ist von allem das Seltsamste für mich. Ich glaube, dass ich durch ihren Mund sprechen kann … aber ich weiß nicht, ob jemand zuhört. Meine Zeit ist kurz. Vergesst nicht: Hütet euch vor dem falschen Boten …«
Wieder langes Schweigen. Als alle schon glaubten, ihr letztes Wort gehört zu haben, bewegten sich Leleths Lippen von neuem.
»Ich gehe nun. Betrauert mich nicht. Ich hatte ein langes Leben und habe immer getan, was ich wollte. Wenn ihr euch an mich erinnern wollt, so bedenkt, dass der Wald meine Heimat war. Sorgt dafür, dass man ihn achtet. Ich will versuchen, Leleth zurückzuschicken, obgleich sie mich nicht verlassen will. Vergesst nicht …«
Die Stimme verklang. Das kleine Mädchen lag wieder da wie tot.
Josua sah auf. In seinen Augen schimmerten Tränen. »Bis zumletzten Atemzug«, sagte er fast zornig, »versuchte sie uns zu helfen. O barmherziger Gott, sie war eine tapfere Seele.«
»Und eine sehr alte Seele«, fügte Aditu ruhig hinzu. Sie wirkte erschüttert.
Obwohl sie noch eine ganze Weile schweigend und voller Kummer um ihr Lager saßen, rührte Leleth sich nicht mehr. Geloës Abwesenheit schien noch stärker, noch bedrückender auf ihnen zu lasten als früher am Abend. Viele Augen füllten sich mit Tränen, als alle nach und nach erkannten, wen sie verloren hatten. Der Prinz begann leise von der Waldfrau zu sprechen und ihren Mut, ihre Klugheit und ihre Güte zu preisen, aber niemand schien die Kraft zu haben, seine Worte zu
Weitere Kostenlose Bücher