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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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    Ruckartig erwachte Simon. Er zitterte am ganzen Körper. Das Gehölz lag in mattem Dämmerlicht, ein eiskalter Wind bewegte die Bäume. Sein Mantel hatte sich in hoffnungslosem Gewirr um seine Knie geschlungen, der Oberkörper war entblößt.
    Er deckte sich wieder zu und legte sich hin. Miriamel neben ihm schlief noch. Ihr Mund stand ein wenig offen, das goldene Haar war zerzaust. Eine Woge von Sehnsucht überschwemmte und durchflutete ihn, begleitet von einem Gefühl der Scham. Sie war so wehrlos, hier draußen in der Wildnis, und er sollte ihr Beschützer sein – was für ein Ritter war er, dass er solche Gefühle hegte? Und doch sehnte er sich danach, sie an sich zu ziehen, zu wärmen, auf ihren offenen Mund zu küssen und ihren Atem an seiner Wange zu spüren. Unbehaglich rollte er sich auf die andere Seite.
    Die Pferde standen noch ruhig, wo sie sie angebunden hatten, das Sattelzeug hing über einem niedrigen Ast. Beim Anblick der Satteltaschen im trüben Morgenlicht empfand Simon eine gewisse hohle Traurigkeit. Gestern Nacht war ihm alles als ein wildes Abenteuer erschienen – heute kam es ihm kindisch vor. Was immer Miriamel für Gründe haben mochte, es waren nicht die seinen. Er war vielen Freunden etwas schuldig – Prinz Josua, der ihn erhoben und zum Ritter geschlagen, Aditu, die ihm das Leben gerettet hatte, Binabik, der ihm ein unverdient guter Gefährte gewesen war. Und es gab noch andere – Menschen, die zu ihm aufsahen wie Jeremias. Aus der Laune eines Augenblicks heraus hatte er sie im Stich gelassen. Und wofür? Nur um sich Miriamel aufzudrängen, die ihren eigenen traurigenZweck damit verfolgte, indem sie das Lager ihres Oheims verließ. Er war von den wenigen Leuten, denen etwas an ihm lag, fortgegangen, um sich an die Fersen eines Mädchens zu heften, das ihn gar nicht wollte. Er spähte nach seinem Pferd und wurde noch trauriger. Heimfinder, ein hübscher Name, nicht wahr? Und jetzt hatte er schon wieder eine Art von Zuhause verlassen, und diesmal ohne guten Grund.
    Seufzend setzte er sich auf. Jetzt war er hier, und daran ließ sich zumindest im Augenblick nichts ändern. Wenn Miriamel aufgewacht war, würde er noch einmal versuchen, sie zum Umkehren zu bewegen.
    Simon wickelte sich in seinen Mantel und erhob sich. Er band die Pferde los, stand eine Weile am Rand des Gehölzes und blickte sich vorsichtig um. Dann führte er die Tiere zum Fluss hinunter, damit sie trinken konnten. Hinterher band er sie an einem anderen Baum fest, von dem aus sie bequem die langen Triebe frisch emporgeschossenen Grases erreichen konnten. Während er zusah, wie Heimfinder und Miriamels namenloser Gaul zufrieden ihr Morgenmahl einnahmen, wurde ihm zum ersten Mal seit seinem schrecklichen Traum leichter ums Herz.
    Er sammelte dürres Holz von der Lichtung, wobei er nur Äste nahm, die trocken genug waren, um nicht zu qualmen, und schichtete ein kleines Feuer auf. Erfreut stellte er fest, dass er Feuerstein und Schlagstahl mitgenommen hatte, fragte sich jedoch, wann er zum ersten Mal feststellen würde, dass er bei seinem hastigen Aufbruch etwas vergessen hatte, das ebenso dringend benötigt wurde. Eine Weile blieb er am Feuer sitzen, wärmte sich die Hände und betrachtete die schlafende Miriamel.
    Etwas später, als er gerade die Satteltaschen nach etwas Essbarem durchstöberte, begann die Prinzessin sich im Schlaf herumzuwälzen und zu rufen.
    »Nein!«, murmelte sie. »Nein! Ich will nicht …« Sie hob die Arme ein Stück, als wollte sie jemanden abwehren. Simon sah ihr einen Moment bestürzt zu, kniete dann an ihrer Seite nieder und nahm ihre Hand.
    »Miriamel, Prinzessin, wacht auf! Ihr habt einen Alptraum!«
    Kraftlos versuchte sie sich loszureißen. Endlich schlug sie die Augen auf und starrte ihn an. Es war, als sähe sie jemand anderen, denn sie hob die freie Hand, als wollte sie sich vor ihm schützen. Dann erkannte sie Simon und ließ den Arm sinken. Ihre andere Hand lag noch immer in seinem festen Griff.
    »Es war nur ein böser Traum.« Er drückte sanft ihre Finger und stellte überrascht fest, wie viel größer seine Hand war als ihre.
    »Es ist schon in Ordnung«, sagte sie nach einer Weile unsicher, entzog ihm ihre Hand und richtete sich auf. Sie zog den Mantel eng um die Schultern und blickte sich so finster auf der Lichtung um, als sei das Tageslicht einer von Simons albernen Streichen. »Wie spät ist es?«
    »Die Sonne steht noch nicht über den Baumspitzen – von dort unten aus,

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