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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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glaube, sie würden mir wehtun. Sie würden mir alles nehmen, was ich noch habe.«
    Simon konnte ihn sehen, eine undeutliche, gebückte Gestalt – aber groß, wie die Königliche Hand es gewesen war, mit so breiten Schultern, dass auch der krumme Rücken sie nicht verbergen konnte. Er hatte eine eigentümliche Kopfhaltung, als leide er Schmerzen.
    »Kann ich … noch Wasser haben?«
    Guthwulf tauchte die Hand in die Rinne unter dem Rad. Als Simon in Reichweite kam, goss er ihm das Wasser über das Gesicht. Simon keuchte und bat um mehr. Noch dreimal füllte Guthwulf die hohlen Hände, bevor Simon wieder nach oben entschwand.
    »Du bist auf einem Rad?«, fragte er dann, als könne er es kaum glauben.
    Simon, dessen Durst seit vielen Tagen zum ersten Mal gestillt war, wunderte sich. War Guthwulf einfältig? Wie konnte jemand, der nicht blind war, ein Rad nicht erkennen?
    Urplötzlich begriff er, warum der andere den Kopf so merkwürdig hielt. Blind. Natürlich! Darum hatte er auch Simons Gesicht betastet.
    »Seid Ihr … Graf Guthwulf?«, fragte Simon, als das Rad sich wieder senkte. »Der Graf von Utanyeat?« Wie sein Wohltäter geraten hatte, sprach er nur leise. Er musste die Frage beim Näherkommen wiederholen.
    »Ich … ich glaube, ich war es.« Die Hände des Grafen hingen schlaff und tropfend herab. »In einem anderen Leben. Bevor ich meine Augen verlor. Bevor ich dem Schwert erlag.«
    Dem Schwert? War er in einer Schlacht blind geworden? Im Zweikampf? Simon verschob die Frage, er hatte über Wichtigeres nachzudenken. Sein Bauch war voller Wasser, sonst aber gänzlich leer. »Habt Ihr etwas zu essen für mich? Nein … könnt Ihr mich befreien? Ich flehe Euch an – sie quälen und foltern mich.« Die vielen Worte zerkratzten seine entzündete Kehle, und er bekam einen Hustenanfall.
    »Dich befreien?« Guthwulf klang hörbar betroffen. »Aber … bist du denn nicht freiwillig hier? Es tut mir leid, es ist alles so … anders. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern.«
    Er ist verrückt. Der Einzige, der mir helfen kann, ist ein Verrückter.
    Laut sagte er: »Ich bitte Euch. Ich leide Qualen. Wenn Ihr mir nicht helft, werde ich hier sterben.« Ein Schluchzen würgte ihn. Davon zu sprechen, machte es auf einmal zur Wirklichkeit. »Ich will nicht sterben!«
    Das Rad begann ihn hinaufzuheben.
    »Ich … ich kann nicht. Die Stimmen erlauben es nicht«, flüsterte Guthwulf. »Sie sagen mir, dass ich mich verstecken muss, damit man mir nicht alles wegnimmt.« Seine Stimme bekam etwas grauenvoll Sehnsüchtiges. »Aber ich habe dich gehört, dein Stöhnen, dein Atmen. Ich wusste, dass du wirklich warst, und ich wollte deineStimme hören. Ich habe so lange mit niemand mehr gesprochen.« Die Worte wurden leise, als das Rad Simon forttrug. »Hast du mir das Essen hingestellt?«
    Simon hatte keine Ahnung, wovon der Blinde redete, aber er hörte, dass der andere zögerte und Simons Qual ihn rührte.
    »Ja!« Er versuchte das Knarren des Rades zu übertönen, ohne zu schreien. War der Mann noch in Hörweite? »Ja! Ich habe Euch Essen gebracht!«
    Bitte lass ihn noch da sein, wenn ich wiederkomme, betete Simon. Bitte lass ihn da sein. Bitte.
    Das nächste Mal, als er unten hing, streckte Guthwulf wieder die Hand aus und strich über Simons Gesicht. »Du hast mir zu essen gegeben. Ich weiß nicht. Ich fürchte mich. Sie werden mir alles wegnehmen. Die Stimmen sind so laut!« Er schüttelte den struppigen Kopf. »Ich kann jetzt nicht denken. Die Stimmen sind zu laut.« Er drehte sich unvermittelt um und schlurfte in die Höhle hinein, wo er im Dunkel verschwand.
    »Guthwulf!«, rief Simon ihm nach. »Verlasst mich nicht!«
    Aber der Blinde war fort.
     
    Die Berührung einer menschlichen Hand, der Laut einer Stimme hatten Simon seine furchtbaren Schmerzen erneut ins Bewusstsein gerufen. Die Stunden, Tage oder Wochen, die vergangen waren – er hatte den Versuch, die Zeit zu verfolgen, längst aufgegeben –, waren zu einer allmählich wachsenden Leere verschmolzen; er war wie im Nebel dahingeschwebt und hatte sich ganz langsam immer mehr vom Licht dieser Welt entfernt. Jetzt war er wieder hier, und es ging ihm schlecht.
    Das Rad drehte sich. Manchmal, wenn in der Schmiedehalle sämtliche Fackeln brannten, sah er maskierte, rußgeschwärzte Männer vorbeieilen, aber nie sprach einer ein Wort mit ihm. Inchs Helfer brachten ihm zwar mit zermürbender Unregelmäßigkeit Wasser, aber verschwendeten keine Zeit damit, ihn anzureden. Ab

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